Zur Zeit gibt es eine verstärkte Diskussion darüber, wie der 8./9. Mai – das Kriegsende 1945 – in diesem Jahr gefeiert werden soll. Soll die Bundeskanzlerin die Einladung zu den Feierlichkeiten in Moskau annehmen oder nicht? Die drei baltischen Staaten haben bereits abgesagt. Wie denkt man in Deutschland darüber? Will man diesen Tag als „Befreiung“ zusammen mit den Siegermächten bejubeln?
In der ehemaligen DDR ist den Schülern jahrelang beigebracht worden, dass mit dem 9. Mai 1945 die „Befreiung des deutschen Volkes vom Faschismus durch die ruhmreiche Sowjetarmee“ stattgefunden habe. Auch Bundespräsident Richard von Weizsäcker sprach in seiner Rede 1985 zum Kriegsende von einer „Befreiung“. Aber er sagte auch: „Der 8. Mai ist für uns Deutsche kein Tag zum Feiern.“ Wie sah nun diese sogenannte „Befreiung“ in Wirklichkeit aus?
Ich bin im nördlichen Teil Ostpreussens geboren und habe den Einmarsch der „glorreichen Sowjetarmee“ im April 1945 hautnah im Samland erlebt.
Von den in die Häuser hereinstürmenden Soldaten ertönte der Ruf: „Uri!! Uri!! Uri!!“ Das bedeutete, sie nahmen alle irgendwo vorhandenen Uhren an sich. Das Wort „Uri“ hatten wir sehr schnell begriffen, denn manche besassen bereits eine ganze Kollektion davon an ihrem Handgelenk, obwohl Armbanduhren zum damaligen Zeitpunkt noch nicht so verbreitet waren wie heute. Bei russischen Soldaten waren Uhren jeglicher Art eine Mangelware.
Dann fuhr ein Lastwagen vor, und alle für einen Notfall gepackten Koffer wurden einfach requiriert und auf den LKW geschmissen. Protest vergeblich! Dann kam die Nacht, und Schrecken einflössende Worte bekamen wir zu hören: „Frau Komm!!“ Meine Mutter konnte gerade einem Russen entfliehen. Sie eilte mit mir zusammen die Treppe hoch, und meine Grossmutter versteckte uns in einer kleinen Abstellkammer. In diesem Versteck überlebten wir die ersten Tage der „Befreiung“. So blieben meine Mutter und ich verschont von der riesigen Vergewaltigungswelle. Jedoch hörten wir noch wochenlang nach der „Befreiung“ Nacht für Nacht die vergeblichen Hilfeschreie von Frauen aus der Umgebung. Oft mussten die jungen Mädchen und Frauen für eine ganze Anzahl von Soldaten herhalten. Mir sagte später ein junges Mädchen, sie hätte bis zum 10ten gezählt, dann hätte sie es aufgegeben. Ein paar Tage später wurden wir aus diesem Haus vertrieben und konnten nur das mitnehmen, was wir gerade noch tragen konnten. Das war die Art der „Befreiung“, die wir im April 1945 im Samland/Ostpreussen erlebten.
Die Ernährungslage war katastrophal. Nur wer arbeiten konnte, bekam 500 g Brot am Tag, gewöhnlich sonst nichts weiter. Alte und Kinder konnte die Sowjetunion nicht gebrauchen. Daher bekamen sie auch nicht einmal das tägliche Brot als Verpflegung. Die Frauen mussten sehen, wie sie für ihre Angehörigen etwas zu essen „organisieren“ konnten. Arbeitsfähige Männer gab es so gut wie keine. Sie waren gewöhnlich Soldat gewesen und nun irgendwo in Gefangenschaft. Die eigenen Häuser bzw. Wohnungen durften nicht mehr von ihren Besitzern bewohnt werden.
Bauernfamilien, die geflüchtet waren, hatten keine Möglichkeit, wieder ihren eigenen Hof zu bewirtschaften. Viele Felder lagen brach und sind heute verwildert. Die grossen Güter existierten nicht mehr. Lediglich in der Nähe von gewissen bewohnten oder vom Militär genutzten Ortschaften wurden Sowchosen errichtet, in denen Frauen – um zu überleben - schwere Männerarbeit verrichten mussten.
Viele Brunnen waren verunreinigt. Infolgedessen brach bei der Zivilbevölkerung Typhus aus. Die Erkrankten wurden isoliert und kamen auf eine Isolierstation, genannt Typhuskrankenhaus. In diesem „Krankenhaus“ gab es infolge der Kriegshandlungen weder elektrischen Strom noch fliessendes Wasser. Die Patienten erhielten mittags eine Suppe aus Kartoffelflocken. Diese Flocken waren aus ungeschälten, kleinen Kartoffeln hergestellt worden. Sie wurden zu deutschen Zeiten von den Bauern als Schweinefutter verwendet.
Da dem deutschen Arzt so gut wie keine Medikamente für die Kranken zur Verfügung standen, starben sehr viele Menschen an dieser sehr ansteckenden und schweren Krankheit. Die Leichen wurden in Laken eingenäht und so in Massengräbern bestattet. Holz für Särge war nicht vorhanden. Und wer sollte die vielen Särge überhaupt herstellen? Arbeitskräfte wurden nur für „produktive“ Arbeit eingesetzt.
Es herrschte eine grosse Hungersnot, die im Winter 1945 und in den weiteren Jahren noch zunahm. Im Sommer 1947 griff zu aller Not Malaria um sich, eine Krankheit, die man früher in Ostpreussen nicht gekannt hatte.
Besonders schlimm traf es Kinder, wenn die Mutter starb, die oft die einzige Ernährerin war. Diese Kinder waren dann sich selbst überlassen. Eine ganze Anzahl dieser Waisenkinder floh nach Litauen. Sie zogen übers Land, fragten Bauern nach einer Beschäftigung. Die kleineren Kinder bettelten um etwas Essbares und eine Schlafstelle für eine Nacht. Diese Kinder wurden später als „Wolfskinder“ bezeichnet, denn sie streunten durch die Wälder, wie es die wilden Tiere machen. Erst viele Jahre später - nach dem Mauerfall - versuchte man, diese besonders tragischen Schicksale aufzuarbeiten. Die Aufarbeitung war nicht immer einfach, denn oft wussten die damals kleinen Kinder nicht einmal ihren richtigen Namen, geschweige denn ihr Geburtsdatum oder den Heimatort. Welch tragische Schicksale waren das!
Man sollte jetzt nicht sagen, dies seien Einzelfälle gewesen. Durch die sogenannte „Befreiung“ verloren etwa 15-16 Millionen Menschen aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten all ihr Hab und Gut, ihre Heimat, ihre Freunde, ihre Sitten und Gebräuche und somit ihre ganze Kultur. Etwa 2 1/2 Mill. Menschen überlebten Flucht und Vertreibung nicht.
All dies wird heutzutage kaum noch erwähnt. Was erfahren Kinder heute davon in den Schulen? Wird nur der Verbrechen gedacht, die Deutsche begangen haben? Das unvorstellbare Leid, das deutsche Menschen erleben mussten und oft kaum ertragen konnten, wird verharmlost oder gar abgestritten und als Propaganda bezeichnet.
An dieser Stelle möchte ich noch einmal aus dem Buch des britischen Autors Victor Gollancz „Our Threatened Values“ (Unsere bedrohten Werte), 1946 erschienen, folgendes zitieren:
„Sofern das Gewissen der Menschen jemals wieder empfindlich werden sollte, werden diese Vertreibungen als die unsterbliche Schande aller derer im Gedächtnis bleiben, die sie veranlasst oder sich damit abgefunden haben.... Die Deutschen wurden vertrieben, aber nicht einfach mit einem Mangel an übertriebener Rücksichtnahme, sondern mit dem denkbar höchsten Mass von Brutalität“.
Wir, die überlebenden Ostpreussen, haben dieses sowjetische Regime 2 1/2 Jahre und z.T. auch noch länger ertragen müssen. Endlich gingen - ab Herbst 1947 - Transporte in die sowjetische Besatzungszone. Wer Angehörige im Westen hatte, konnte in die westlichen Besatzungszonen ausreisen. Die anderen verblieben in der sowjetischen Zone, wie die DDR seinerzeit hiess. Aber überall herrschte Lebensmittelknappheit. Und die Flüchtlinge hatten oft nur etwas Handgepäck retten können. Alles Denken und Trachten ging dahin, wie schaffen wir wieder ein einigermassen menschenwürdiges Leben und Wohnen? Und vor allem, wo waren die nächsten Angehörigen? Wer von ihnen und den Freunden und Bekannten war noch am Leben?
Wie wenig Ahnung haben heutige junge Menschen (aber nicht nur junge!) vom Leben unmittelbar nach dem Krieg, das für viele – besonders aber für die Ostdeutschen, die ihre Heimat verloren hatten – unendlich schwer war. Wie sollte ein Bauer, der seinen ererbten Hof mit lebendem und totem Inventar hatte zurücklassen müssen, wieder von vorne anfangen? Und deren gab es viele in Ostpreussen, denn Ostpreussen war seinerzeit die Kornkammer Deutschlands gewesen.
Ich glaube, was die Ostdeutschen durchlitten haben, können sich Menschen der heutigen Wohlstandsgesellschaft auch nicht im Entferntesten vorstellen. Umso schlimmer finde ich den Vorwurf, der heute der Kriegs- und Nachkriegsgeneration gemacht wird, die im westlichen Teil der BRD lebt, sie hätte zuviel nach vorne geschaut und sich nicht um deutsche Verbrechen gekümmert!
Auf der anderen Seite muss man sehen, dass den Menschen in der DDR eine Sichtweise aufgezwungen wurde, die nicht erlaubte, die Wahrheit über die unmenschliche Willkür der Eroberer gegenüber deutschen Zivilisten zu erwähnen, geschweige denn, von dem völkerrechtswidrigen Raub von mehr als einem Viertel des deutschen Territoriums, zu sprechen.
Auf westlicher Seite bestanden ebenfalls gewisse Verbote. Es durfte z.B. nichts Negatives über die Siegermächte und deren Handlungen gesagt oder geschrieben werden, und es durfte nichts Positives über das Deutsche Reich gesagt werden. Dies ist von Journalisten und öffentlichen Medien weitgehend eingehalten worden. Und ich möchte sagen, es hat sich bis heute nichts wesentlich geändert, was die Information durch die öffentlichen Medien und Zeitungen betrifft.
Es besteht jedoch kein Grund, die Vertreibung zu verharmlosen oder gar zu verschweigen. Dass die russische Regierung heute die Greueltaten ihrer Soldaten dem Vergessen überlassen will, ist nachvollziehbar. Aber nichts ist von Dauer, das auf Unwahrheiten oder gar Lügen aufgebaut wird. Das gilt auch für das deutsch-russische Forum. Dort bemüht man sich, ein freundschaftliches Verhältnis zwischen Deutschland und dem heutigen Russland aufzubauen. Doch sollte man positive Beziehungen nicht durch unlautere Propaganda in Gefahr bringen.
Es ist allerdings eine Heuchelei, wenn die deutsche Bundeskanzlerin zur Siegesparade nach Moskau fährt und dabei vergisst, welches unsagbare Leid ihre eigenen Mitmenschen von den Siegermächten erleiden mussten.
Inge Keller/Schweiz