Gibt es ein Leben nach dem Tod? Wer weiss. Eines steht aber fest: Mit Sicherheit gibts einen lebendigen Tourismus nach dem Tod. Für Dahingeschiedene aus aller Welt beginnt die grosse Heimreise manchmal mit einem Abstecher in die Schweiz.
Eine Naturbestattung der speziellen Art: Im schmucken Holzköfferchen wird die Urne mit der Asche des Verstorbenen per Helikopter auf einen Gletscher geflogen. Dort wird die Asche im ewigen Eis ausgestreut. Foto «Die letzte Ruhe»
Die Bestattung in einem Bach: Auch sie ist in der Schweiz möglich. Foto «Die letzte Ruhe»
Dies war mal ein Mensch: Eine Schweizer Firma macht aus der Asche von Verstorbenen Diamanten. Foto Algordanza
Zur Auffrischung des helvetischen Wortschatzes zunächst dies: Das Wort für «Erinnerung» lautet im rätoromanischen Idiom Puter «Algordanza». Algordanza ist aber auch der Name einer Firma im bündnerischen Domat- Ems, die erst kürzlich ihren 6000. Diamanten ausgeliefert hat. Die Diamanten stammen allerdings nicht aus den Tiefen der Bündner Berge. Sie wachsen in Produktionshallen, wo in mächtigen Maschinen kleine Mengen an Graphit hohen Temperaturen und unvorstellbarem Druck ausgesetzt werden. Dabei wird der Graphit zu Diamant umgewandelt.
Das Wichtigste: Der Graphit, aus dem die leicht bläulichen Diamanten entstehen, wird in einem aufwändigen Prozess aus der Asche Verstorbener extrahiert. Die High-Tech-Firma arbeitet also an der delikaten Schnittstelle zwischen Loslassen und Festhalten – und bietet ihren Klienten Unvergängliches an: edle Steine für Menschen, die ihre verstorbenen Liebsten nicht nur im Herzen, sondern als Schmuckstück am Hals tragen wollen. Firmengründer Rinaldo Willy folgt dem Credo Edelstein statt Grabstein: Seine «Erinnerungsdiamanten» seien ideal für den modernen Menschen, der ja nicht mehr an einem Ort verwurzelt sei.
Der Vergänglichkeit mit einem Versteinerungsprozess begegnen: Ist das ethisch vertretbar? Diese Frage stelle sich den Angehörigen, sagt Algordanza-Sprecherin Celine Lenz. Die Firma selbst urteile darüber nicht: Sie wolle lediglich «Menschen mit einer ausgeprägten Erinnerungskultur» dienen und ihnen «etwas Persönliches bieten, das strahlt». Berechtigt sei aber die Frage nach der Pietät während des Produktionsprozesses. Da gelte strikt: «Niemand berührt die Asche. Niemand berührt den Diamanten von blosser Hand. Das ist ein Privileg, das nur die Angehörigen haben.»
Die Diamantenbestattung sei als Alternative zu anderen Bestattungsformen zu sehen, sagt Lenz. Diese Relativierung ist angezeigt, denn für Normalsterbliche ist die Diamantwerdung die eher kostspielige Variante: Für einen geschliffenen Erinnerungsdiamanten von 1,0 Karat stellt Algordanza gut 20 000 Franken in Rechnung. Häufiger werden 0,5 Karäter bestellt. Die gibts für unter 9000 Franken. Und die Auftragsbücher sind voll. Besonders aus Deutschland und Japan wird sehr oft Asche von Verstorbenen angeliefert, die ihre grosse Heimreise angetreten haben. Gut 90 Prozent jener, die im Bündnerland Eingang ins reine, klare Kristallgitter eines Glitzersteins finden, lebten zuvor im Ausland. Längst schon hat die Firma Niederlassungen in über 20 Ländern. Aber trotz des Booms: Die Diamantenbestattung gilt als Nischenangebot im helvetischen Bestattungswesen.
Spurloses Grab in der Natur
Die Schweiz hat sich zur vorzüglichen Destination im Bestattungstourismus entwickelt. Diese Meinung vertritt der Unternehmer Beat Rölli, der sich seit zehn Jahren mit seiner Firma «Die Letzte Ruhe» als «Spezialist für Naturbestattungen» empfiehlt. Unter Naturbestattung versteht er, die Asche Verstorbener ausserhalb des engen Friedhofgemäuers der freien Natur zu übergeben. Wer glaubt, seine ewigen Jagdgründe müssten zwingend in der naturdominierten Alpenwelt liegen, dem bietet Rölli eine Bergwiesen-, Bergbach-, Wasserfall-, Fels- oder Gletscherbestattung an. Wer sich eher himmelwärts gezogen fühlt, kann auch eine Flugbestattung buchen: Dann lässt Rölli die Propellermaschine, den Hubschrauber oder einen Ballon hochsteigen – und die Asche wird in der Höhe den Winden anvertraut.
Die Nachfrage nach Naturbestattungen sei gross, doch die Form der Bestattung bleibe nur eine Facette des Abschiednehmens, sagt Daniel Reichlin, der in Röllis Unternehmen für Vorsorgefragen verantwortlich ist, also für alle Abmachungen, die Menschen im Hinblick auf ihr Ende noch zu Lebzeiten eingehen. Reichlins Meinung: All die Gespräche im Vorfeld und die Unterstützung der Hinterbliebenen seien mindestens so entscheidend wie der Grundsatzentscheid, die Natur als letzte Ruhestätte zu wählen.
Läutet bei Rölli das Telefon, sind oft Anrufer aus dem Ausland am Draht. Der Hauptgrund für deren Reiselust in die Schweiz liegt nicht nur am Angebot der alternativen Bestatter. Entscheidend sind die liberalen schweizerischen Gesetze: Die Eidgenossenschaft hat den Einfluss der Kirchen im Bestattungswesen schon 1874 beschnitten. Damals wurde die Aufsicht über die Friedhöfe den weltlichen Behörden übertragen. Besonders zentral ist aber, dass die Schweiz im Gegensatz zu vielen Staaten keinen Friedhofs- und Bestattungszwang kennt. Erdbestattungen sind zwar auch in der Schweiz nur auf Friedhöfen möglich. Hingegen sind Angehörige frei, was sie mit der Asche ihrer kremierten Angehörigen tun wollen. Ihnen stehen die Friedhöfe offen. Sie dürfen die Urne aber auch im eigenen Garten versenken, im Büchergestell aufbewahren oder mit der Asche ein frisch gepflanztes Apfelbäumchen nähren.
Die meisten werden kremiert
Der rechtliche Rahmen belebt nicht nur den «Bestattungstourismus», sondern treibt primär auch den zügigen Wandel der Bestattungskultur in der Schweiz an. Gehörte es vor einer Generation noch zum Alltagsbild, dass der Dorfschreiner den Sarg zimmert, der Leichenzug durchs Dorf zieht und starke Männer den Sarg ins Grab absenken, so zeigt sich heute eine ganz andere Realität: 60 000 bis 65 000 Menschen sterben jährlich in der Schweiz, und deutlich über 80 Prozent von ihnen werden kremiert. Tendenz: steigend. Philipp Messer, Präsident des Schweizerischen Verbandes der Bestattungsdienste (SVB), betont, die stetig steigende Zahl an Kremationen verändere auch die Kultur des Abschiednehmens. Das klassische, individuelle Reihengrab werde zum Auslaufmodell. Immer weniger drängten auf eine individuelle Grabstätte. Heute entscheide sich bereits über ein Drittel jener, die sich auf einem Friedhof beisetzen lassen, für ein Gemeinschaftsgrab. Sehr oft werde die Asche «losgelöst vom Friedhof» ausgestreut, sagt Messer.
Unter Bäumen ruhen
Die in der Schweiz am häufigsten gewählte Alternative zur konventionellen Bestattung ist die Beisetzung in der Natur, oft in einem eigens dafür bestimmten Wald. Als Pionier der Waldbestattungen gilt Ueli Sauter, der 1993 einen langjährigen Freund verloren und sich dann entschieden hatte, einen Baum zu pflanzen und des Freundes Asche in die Wurzeln einzubringen. Ausgehend von diesem Ereignis suchte Sauter nach Bestattungsmöglichkeiten in Wäldern und baute in der Folge die Organisation Friedwald auf. Inzwischen hat sich Friedwald 70 Waldparzellen vertraglich gesichert und bietet dort stattliche Bäume an, die zuvor von Förstern als besonders ideal und standhaft gekennzeichnet worden sind. Wer einen Friedwald-Baum wählt, kann dort auch die Asche von mehreren Nahestehenden bestatten. Der Wald bleibt dabei Wald, wird nicht zum Park: An den Bäumen weisen keine Namensschilder auf die Verstorbenen hin, kein Bänklein macht die Ruhestätte erkennbar, kein Zaun friedet sie ein. Zerzausen Sturm und Gewitter einen Friedwald, dann gilt das als der Lauf der Dinge, als ein Stück Natur.
Die Idee des Friedwaldes hat sich gut etabliert. Sauter sagt, inzwischen kämen Waldbesitzer sogar auf ihn zu und böten Waldparzellen an. Zudem haben zahllose kommunale Friedhofsverwaltungen längst auf den Trend reagiert und Teile ihrer Friedhöfe mit Bäumen bepflanzen lassen, an deren Fuss Urnen beigesetzt werden können.
Wer über die Form der Bestattung rede, müsse vor allem überlegen, was sie abbilde, verlangt SVB-Präsident Philipp Messer. Er orte oft «ein Zuviel an Bescheidenheit»: Viele Betagte wollten ihren Angehörigen nicht zur Last fallen, wollten nicht, dass sich jemand über Jahre hinweg um ihr Grab kümmern muss. Sie drängten auf die «ganz schlichte Sache». Pomp sei definitiv passé. Doch die enorme Zurückhaltung sei manchmal auch «ein unbedarfter Ansatz». «Denn für die Allermeisten ist es letztlich unvorstellbar, dass am Grab nichts passiert», so Messer. Das Abschiednehmen brauche immer auch einen Rahmen – und Worte: «Ohne Worte wird eine Bestattung sehr beklemmend.» Es gelte also, die Bedürfnisse der Lebenden nicht auszublenden: «Wer sagt, an seiner Bestattung brauche es eigentlich nichts und niemanden, der lädt damit auch jene aus, die auf ihre Weise Abschied nehmen möchten.»
Der Trend hin zu mehr Schlichtheit habe allerdings auch demografische Ursachen. Die Menschen lebten deutlich länger und seien oft auch länger krank, zuweilen dement. Die Entfernung zu den Lebenden beginne bereits zu Lebzeiten. Dieser Umstand lasse den Tod oft als Erleichterung erscheinen.
Die Urne – täglich vor Augen – im Büchergestell. Die Asche – ganz namenlos – im Buchenwald. Die Teuerste als Diamant am Goldkettchen. Der Liebste auf einem Berggipfel vom Wind verweht. Das sich aufdrängende Fazit: Der Wandel der Bestattungskultur in der Schweiz oszilliert zwischen dem Verlangen nach permanenter, ewiger Erinnerung und dem Wunsch des sanften und spurlosen Entschwindens. Dieses Spannungsfeld sieht auch «Letzte Ruhe»-Mitarbeiter Daniel Reichlin. Das Denken habe sich komplett verändert, und er orte eine wachsende Abgeklärtheit. Viele sagten sich: «Entweder bleibe ich in Erinnerung – oder ich gehe halt vergessen.» Gerade Theologen wenden aber ein, der Wandel führe nicht zum besseren Umgang mit Tod und Trauer. Der Trend zum spurlosen Abgang raube Hinterbliebenen den nötigen Ort, um zu trauern: Geringer werde die Trauer dadurch keineswegs. Und der gegenteilige Trend hin zum ewig währenden Erinnerungsstück sei ein Stemmen gegen das Definitive des Todes.
Übrigens: Die Technologie, die eingesetzt wird, um aus der Asche Verstorbener Diamanten zu ziehen, können jetzt auch Quietschlebendige nutzen. Aus einer Handvoll eingeäscherter Haare Lebender synthetisiert die Schweizer Firma Augenstern ebenfalls Diamanten. Doch das Geschäft mit den Lebenden läuft deutlich weniger gut als jenes mit den Verstorbenen: Es ist, als ob die Lebenden ahnten, dass die per menschgemachtem Diamanten ausgedrückte ewige Zuneigung vielleicht doch etwas brüchiger bleibt als der Diamant selbst.
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