Schlägereien im Ausgang, Hasstiraden im Internet: Warum geraten immer mehr Leute ausser Kontrolle?

von , und

Sie schleiften sie über den Asphalt, prügelten auf sie ein. Ihre Peiniger kannte sie nicht. Es war nach der Street Parade, gegen drei Uhr morgens. Die 29-jährige Géraldine Nowa hatte – als Engel verkleidet – fröhliche Stunden in einem Zürcher Club verbracht. Jetzt war die Thurgauerin mit ihrer Freundin auf dem Weg zu einer Bekannten, wo sie übernachten wollte.

Plötzlich bemerkten die beiden drei Männer, drei Tamilen, hinter sich. Einer beschimpfte den Engel als Schlampe. «Ich drehte mich um, sagte: ‹Das bin ich ganz bestimmt nicht, ich bin eine Mutter.›» Sie solle ihm Respekt zollen, erwiderte er – und spuckte ihr ins Gesicht. «Ich begann mich zu wehren und schubste ihn weg.» Dann flogen die Fäuste. Aus einem langsam vorbeifahrenden Auto rief einer: «Gibs ihr, dieser Bitch!» Passanten wandten sich ab. Erst als sie immer wieder «Hilfe, ich bin doch ein Mami!» schrie, kamen zwei Männer mit Hunden herbeigerannt und verhinderten, dass die Wütenden ihr auch noch ins Gesicht traten.

Und die psychischen Folgen?

Géraldine Nowa hat dem Horror willkürlicher Gewalt ein Gesicht gegeben, sprach im Fernsehen über den Überfall. Was ist zwei Monate danach geblieben? Ihr Schädel-Hirn-Trauma, die Prellungen, die blutigen Knie, das kaputte Handgelenk und das lädierte Sprunggelenk, das alles wird wohl heilen. Aber der seelische Schaden?

Nowa leidet an Panikattacken. «Ich traue mich kaum mehr aus dem Haus. Und wenn es dunkel ist, schon gar nicht.» Sie geht jeden Abend mit Kopfschmerzen zu Bett und wacht mit Kopfschmerzen auf. Die Ärzte sagen, das sei so, weil ihr Körper so viel Angst produziere. «Wenn ich schlafe, träume ich, dass Leute um mich herumstehen und mich anstarren, aber keiner hilft.» Dieses Bild geht ihr nicht mehr aus dem Kopf. «Ich habe mein Vertrauen in die Menschlichkeit verloren. Ich hoffe, es kommt wieder zurück.»

 

«Ich traue mich kaum mehr aus dem Haus»

Géraldine Nova
Géraldine Nova, Gewaltopfer, in der SRF-Sendung «Der Club» (Quelle: SRF / Der Club)

 

Krawall und Messer im Rücken

Nicht nur Angriffe auf Einzelpersonen, auch Massenschlägereien sorgten diesen Sommer für Schlagzeilen. Am 18. August attackierte ein aufgebrachter Mob an der Zürcher Seepromenade Polizisten und Sanitäter mit Steinen und Flaschen. Die Ambulanz war nach einer Messerstecherei vor einem Club ausgerückt, um einen Schwerverletzten zu retten.

Der Angriff ging von gewaltbereiten FCZ-Ultras aus, die bei jedem Blaulicht rotsehen. Sie hatten sich unter die Massen gemischt, die ihren Abend friedlich am See verbrachten. Schliesslich solidarisierten sich mehrere hundert Gaffer mit den Angreifern. Die Polizei musste den Mob mit Wasserwerfern, Gummischrot und Tränengas zurückdrängen, damit die Ambulanz den Schwerverletzten bergen konnte – das Messer steckte noch immer in seinem Rücken.

 

Beamte geraten vermehrt ins Visier


So haben sich Gewalt und Drohung gegen Behörden und Beamte sowie Hinderung einer Amtshandlung entwickelt (Anzahl Verurteilte). (Quelle: BFS – Infografik: Anne Seeger)

Kaum ein Wochenende vergeht ohne Auseinandersetzungen, bei denen Leute verletzt werden. Im Kanton Bern haben schwere Gewalttaten innert eines Jahres um 21 Prozent zugenommen, zeigt die Polizeistatistik für das Jahr 2017. Vor allem schwere Körperverletzungen nach Partynächten. Ein Befund, der sich auf grössere Schweizer Städte übertragen lässt.

Die Berner Polizei versucht das Problem seit einigen Monaten mit mehr Präsenz an neuralgischen Orten und mit Aufklärungsarbeit bei jungen Erwachsenen in den Griff zu bekommen. Die Zürcher Behörden reagierten nach dem Vorfall am See mit zusätzlichen Überwachungskameras, damit man Übergriffe besser beweisen kann. Denn viele Täter entkommen nach Übergriffen unerkannt. So auch im Fall von Géraldine Nowa.

 

Zürich, 28. Februar 2018: brutale Schlägerei zwischen FCZ- und GC-Anhängern


(Quelle: Stadtpolizei Zürich)

Der muskulöse Underdog, der sich als einsamer Wolf durch die Welt kämpft

Dabei war die Jugend selten so brav wie heute. Bei Minderjährigen ist die Gewalt seit 2008 stark zurückgegangen. Das schlägt sich mit leichter Verzögerung in den Statistiken zu Verurteilungen nieder. Eine Auswertung von typischen Partynacht-Delikten zeigt, dass es die Altersgruppe der 18- bis 29-Jährigen ist, die am häufigsten eine Quittung für Gewalttaten erhält. Allerdings landet nur ein Bruchteil der Übergriffe vor dem Kadi. «Mit zunehmendem Alter nimmt die Bereitschaft zu, einen Vorfall anzuzeigen. 15-Jährige gehen nach einer Schlägerei selten zur Polizei. 30-Jährige tun das viel eher», sagt Kriminologe Denis Ribeaud, der die Entwicklung von Jugendgewalt im Kanton Zürich zwischen 1999 und 2014 untersucht hat.

Über eine wiederholte Befragung von jeweils rund 2500 Neuntklässlern hat Ribeaud nach Faktoren gesucht, die für Gewalterfahrungen eine Rolle spielen. Mit überraschenden Ergebnissen. Die Bedeutung des Alkohol- und Drogenkonsums ist über die Jahre tendenziell gesunken. Dafür weist der Konsum von problematischen Medien die heute stärkste Korrelation mit Gewalt aus: «Ballergames und Pornofilme liefern Handlungsschablonen, die Gewalt provozieren, wenn sich Jugendliche in der realen Welt daran orientieren.»

Auch Gewalt legitimierende Männlichkeitsnormen, wie man sie aus der Rap- oder eben der Game-Kultur kennt, spielen eine immer grössere Rolle – Normen, die auch über Migration aus patriarchal geprägten Kulturen wieder vermehrt in die Schweiz gelangen. «Es geht dabei um die Ästhetik des muskulösen Underdogs, der sich als einsamer Wolf durch die Welt kämpfen muss, sich nehmen muss, was er braucht, um auf Anerkennung zu stossen», so Ribeaud.

 

Minderjährige sind nicht die Schlimmsten


Entwicklung der Anzahl verurteilter Personen nach Alter. Die Grafik beschränkt sich auf Personen, die wegen Gewaltdelikten – z.B. Körperverletzung, Nötigung, Drohung, Gewalt und Drohung gegen Beamte – verurteilt wurden. (Quelle: BFS – Infografik: Anne Seeger)

24-Stunden-Shops und ÖV in der Nacht

Minderjährige halten sich zwar immer weniger oft im öffentlichen Raum auf. Dafür umso länger, wenn sie am Wochenende auf die Piste gehen. «Sie haben schlicht weniger Zeit, um abzuhängen, weil sie sich immer intensiver in den sozialen Medien bewegen. Der Druck ist gross, sich dort zu präsentieren und zu positionieren», so Ribeaud.

Dass Gewalttaten in urbanen Zentren dennoch zunehmen, hat einen einfachen Grund: Immer mehr Junge aus einem viel grösseren Einzugsgebiet zieht es abends in die Städte. Der ausgebaute öffentliche Nachtverkehr und 24-Stunden-Shops, die Leute mit billigerem Alkohol ausserhalb der Clubs versorgen, machen es möglich.

Die Ausgangsmeilen werden dadurch jünger und anonymer. «In den Clubs schwindet das Stammpublikum», sagt ein erfahrener Türsteher an der Langstrasse. Es sei weniger berechenbar geworden, wie sich ein Abend entwickle. Dennoch gibt es in den Clubs selber kein nennenswertes Gewaltproblem. Rigide Eingangskontrollen, Angestellte im Lokal und Securitys um die Clubs verhindern das. Die Probleme haben sich dadurch in den wenig kontrollierten öffentlichen Raum verlagert.

 

Meistens am Wochenende


Die Anteile an Gewaltfällen, die am Wochenende stattfinden, nehmen bei allen Altersgruppen zu. (Quelle: SSUV/Pool und SAKE – Infografik: Anne Seeger)

Zehntausende besuchen jedes Wochenende den grössten Freiluftclub der Schweiz, die Zürcher Langstrasse. Ingo, 48, sitzt wie so oft mit einem Bier auf der angrenzenden Piazza Cella, «wo das Leben spielt». Hier treffen Partygänger auf Ausländercliquen, Randständige und gealterte Freier. Und hier hängen die rum, denen der Eintritt in einen Club zu teuer ist. Und die, die draussen bleiben müssen, weil sie schon zu betrunken oder latent aggressiv sind. Oder weil es bereits zu viele Männer in den Clubs hat.

So mancher macht einen Bogen um diesen Abschnitt der Langstrasse, wo es immer wieder zu wüsten Szenen kommt. Wie in der Nacht zum 30. September, als eine Massenschlägerei für einen Beteiligten mit Kopfverletzungen im Spital endete. 20 Minuten später wurde in der Nähe des Hauptbahnhofs ein 32-Jähriger bewusstlos geschlagen – und liegen gelassen.

Sexuell frustriert

«Bis ein Uhr ist noch alles in Ordnung», sagt Ingo. Dann weiche die Ausgelassenheit einer latenten Aggressivität. «Sexuelle Frustration. Die armen Typen finden einfach keine Frau. Das ist der wichtigste Grund für Zoff im Nachtleben», ist der Deutsche überzeugt. «In einer reichen Stadt wie Zürich ist es besonders schwierig, zu bestehen. Du siehst 20-Jährige mit Ferraris herumkurven und schöne Frauen, die in teuren Clubs verschwinden. Da fragt sich mancher: ‹Was mache ich falsch?›» In den frühen Morgenstunden, wenn klarwird, dass wieder nichts läuft, werde der Frust halt abgebaut. «Ein falscher Blick kann dann genügen.»

«Wir erleben eine Fragmentierung der Gesellschaft», sagt der deutsche Kommunikationsforscher Andreas Vogel. «Kids, die aus finanziellen Gründen im Freizeitleben nicht mitmachen können, werden frustriert und förmlich auf die Strasse gedrängt. Dort kann diese soziale Trennung als Gewalt auf die Gesellschaft zurückschlagen.»

Und plötzlich schlagen viele zu. «Einer beginnt, dann kommen seine Kumpels, die ihn verteidigen müssen. Die klassische Profilierungsgeschichte – aus einer Nichtigkeit entsteht eine Massenschlägerei», erzählt Noah, 18, ein Bekannter von Szenebeobachter Ingo. Und was machen die Passanten? «Verantwortungsdiffusion», bricht es aus Noah hervor. «Erst schauen, was die andern machen, und sich daran orientieren. Wer am lautesten ist und am meisten Freunde hat, wird darum die besseren Karten haben.» Zivilcourage sei dagegen weniger die Schweizer Art.

Das erklärt womöglich, wie ein normaler Partygänger plötzlich zum Gewalttäter wird. Wie in jener Nacht vor drei Jahren in Winterthur. Nach einem nichtigen Zoff in einem Club schlagen zwei Besucher vor dem Lokal auf einen andern ein. Als er bereits am Boden liegt, treten sie gegen seinen Kopf. Ein Bekannter der Täter, der nichts von der Auseinandersetzung mitbekommen hat, schliesst sich an und tritt ebenfalls zu. «Um vor meinen Kollegen gut dazustehen», sagt er später vor Gericht.

 

Zürich, 3. Juni 2018: Massenschlägerei im Quai 61


... ausgelöst durch eine umgekippte Shisha-Pfeife. (Quelle: Screenshot 20min.ch)

Versuchte Tötung

Am 8. August waren es fünf junge Frauen, die im Morgengrauen vor einem Genfer Club von mehreren Männern angegriffen und – so die Staatsanwaltschaft – «mit extremer Gewalt» geschlagen wurden. Drei Frauen mussten ins Spital eingeliefert werden, eine von ihnen lag zehn Tage im Koma. Drei der mutmasslichen Täter, Franzosen, sitzen in Frankreich in Untersuchungshaft. Sie werden wegen versuchter Tötung angeklagt. Nach den Mittätern wird noch gefahndet.

Der Übergriff löste eine Welle der Empörung aus. In Genf, Lausanne, Bern, Basel und Zürich fanden Kundgebungen statt. Und hitzige Debatten über die Ursachen der Gewalt gegen Frauen. Ist es ein Ausländerproblem, da viele Täter einen Migrationshintergrund haben? Kann ein gewaltverherrlichender Machismo unabhängig von solchen Herkunftsfragen thematisiert werden? Der Zürcher Forensiker Frank Urbaniok warnt im Interview mit dem Beobachter vor einer «weichen Zensur», die das Gewaltproblem von ausländischen Machokulturen trennt. Das sei Wasser auf die Mühlen von Wutbürgern, die sich radikalisierten, wenn ihnen ein Teil der Wahrheit vorenthalten werde.

Der Hass im Netz

Auch die Wutbürger haben ihre «Partymeilen»: nur rudimentär kontrollierte soziale Plattformen, die Ventil und Nahrung für ihren aufgestauten Hass sind. Dort schlagen sie mit Worten zu, meist in mangelhaftem Deutsch: «Adolf hat was falsch gemacht er hat die juden verwechselt mit den Musselratten.» Oder: «Schneidet dem A Loch den Sack ab und verklebt ihm damit sein dummes Geschwätz... hirnloser Idiot!!!», kommentieren zwei Schweizer Wutbürger einen Beitrag, in dem der deutsche Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble Muslime als Bereicherung bezeichnet.

Andere schreiben nicht, sie verbreiten Hass, indem sie liken. Zum Beispiel der Zürcher SVP-Kantonsrat René Truninger. Ihm hatte es Ende September ein Beitrag der Facebook-Gruppe «Mehr Schweiz» angetan. Darin wünscht ein Schreiber, dass bestimmte Frauen «mal missbraucht» würden, «dann denken die schnell anders». Gerichtet ist der Hasswunsch an Politikerinnen der Grünen, der SP und der Juso. Hintergrund ist die Verurteilung eines syrischen Asylbewerbers und Sexualtäters – mit dem die Politikerinnen rein gar nichts zu tun hatten.

«Was kann die Aufmerksamkeit von Milliarden erregen, fesseln und erhalten? Empörung.»

Tristan Harris, Internet-Ethiker

Die Gruppe «Meldezentrale für Eidgenossen» sammelt solche Beiträge und meldet sie Facebook, damit sie gelöscht werden. In schlimmeren Fällen orientiert sie die Meldestelle für Internetkriminalität Kobik. 7500 stossende Beiträge haben die zehn Aktivisten innert eines Jahres gefunden. Sie wünschten sich, dass Facebook diese Arbeit selber gewissenhafter erledigen würde, sagt ein Mitglied.

Facebook und Co. haben mittlerweile auf den Philippinen «Cleaner» engagiert, die gröbste Entgleisungen löschen sollen. Im gleichnamigen Dokumentarfilm fragt Tristan Harris, Ex-Ethikbeauftragter bei Google: «Was kann die Aufmerksamkeit von Milliarden Menschen erregen, fesseln und erhalten? Und was bringt sie dazu, die Inhalte zu teilen?» Und gibt gleich eine ernüchternde Antwort: «Empörung eignet sich dafür besonders gut. Ob Facebook will oder nicht, es bekommt mehr Aufmerksamkeit, wenn es Feeds zeigen, die voller Empörung sind

Verbreitet werde, was am polarisierendsten, am empörendsten und am furchtbarsten sei. «Alles ist darauf ausgerichtet, das Schlechteste von uns hervorzubringen.»

Löschen im Minutentakt

Auch Schweizer Medienhäuser suchen einen Umgang mit Hasskommentatoren, den Hatern. Die NZZ bietet Kommentiermöglichkeit bloss noch bei maximal sechs Artikeln pro Tag. Jede Debatte wird von einem Moderator begleitet, der bei problematischen Einwürfen auch Rückfragen stellt und nach Quellen fragt.

Beim Onlinemagazin Watson.ch löschen zwei Social-Media-Manager Hasskommentare auf den Facebook-Auftritten. Und sie blockieren User, die sich danebenbenehmen. «Die Kommentare auf der Homepage moderieren alle auf der Redaktion zusammen und löschen im Minutentakt Beiträge, die gegen unsere Richtlinien verstossen», sagt Chefredaktor Maurice Thiriet. «Die Autoren von hitzig diskutierten Geschichten sind zudem angehalten, sich in Diskussionen einzuschalten, weil das eine disziplinierende Wirkung auf die Debattierer hat.»

Der Verrückte und Unvernünftige sei im Vorteil, wenn Authentizität und Glaubwürdigkeit verlorengehen, so Forensiker Frank Urbaniok. «In einem Umfeld von überzogener Political Correctness, Tabuisierungen, weicher Zensur und PR-strategisch optimierten Aussagen und Profilen öffentlicher Personen wird Glaubwürdigkeit plötzlich durch unvernünftige und verrückte Personen geschaffen», sagt er mit Verweis auf das Phänomen Donald Trump.

Ob frustrierte junge Hater von der Strasse einst als Wutbürger im Internet altern, ist ungewiss. An gewaltverherrlichenden Machokulturen wird es ihnen auch dort nicht mangeln.

 

Spätnachts knallts am häufigsten: gewaltbedingte Verletzungen am Wochenende im öffentlichen Raum


Risiko von gewaltbedingten Verletzungen am Wochenende im öffentlichen Raum nach Uhrzeit (Fälle pro 100'000 Männer zwischen 15 und 24 Jahren). (Quelle: SSUV/Pool und SAKE – Infografik: Anne Seeger)


Benutzerdefinierte Suche

 

SPORT LINKS:
Formula 1 UEFA FIFA www.swissski.ch www.iihf.com
Go to top