Augenzeugenbericht einer betroffenen Heimatvertriebenen
Gerda EICHNER, geb. Kraus, | Gießen, den 26.02.1984 |
geb. 1920, [Lehrerin i.R.] |
Kurzer, persönlicher Bericht über die Ereignisse im Mai 1945 in Prag und Umgebung:
Moravský Beroun / Bärn, Nord-Mähren
Im Stenogramm niedergeschrieben 1946, auf Anregung meiner Großmutter; Auszug aus einem Brief an meinen Vater, Dr. Karl Kraus, der von der Deutschen Wehrmacht nach Nürnberg entlassen worden war.
Wir [meine Großmutter, Emilie Dostal, geb. Heuchel, geb. am 01.12.1873 in Herzogwald bei Hof, Kreis Bärn [Moravský Beroun], Nord-Mähren, damals Österreich-Ungarn; meine Mutter, Berta Kraus, geb. Dostal, geb. am 10.04.1902 in Brünn [Brno], Mähren, damals Österreich-Ungarn; und ich, Jahrgang 1920] waren 1945 in Prag geblieben und erlebten am 05. Mai 1945 den Revolutions-Ausbruch / [tschech.: Pražské povstání].
Die [Anm.: kommunistischen] Revolutions-Garden (tschech.: „Revoluční garda“) holten uns [Anm.: weil wir Deutsche waren] mit vorgehaltenen Pistolen aus der Wohnung, [und erklärten uns,] wir müßten uns wegen der deutschen Staatsbürgerschaft sofort bei der Polizei melden, kämen jedoch in längstens zwei Stunden wieder nach Hause [Anm.: was eine glatte Lüge war]. So gingen wir also nur mit dem Handtäschchen und dem Kinderwagen (Säugling von 8 Wochen) [Anm.: unter Zurücklassung aller Habe und aller Dokumente in der Wohnung] unter Polizeibewachung mit weiteren Deutschen, die ebenfalls alle aus den Wohnungen geholt wurden, mit, und wurden in den Keller der Schule in der Svatoslav-Gasse [auf tschech.: ul. Svatoslavova] in Prag-Nusle [Anm.: Stadtbezirk in Prag-Zentrum/ Süd] gebracht.
Wir kamen nie mehr nach Hause und besitzen daher nur das, was wir auf dem Leibe hatten. Über die furchtbaren Mißhandlungen, Qualen und Erschießungen wirst Du vielleicht z.T. schon gehört haben1), brieflich kann man das nicht schildern.
Prag: Revolutions-Garden am 09. Mai 1945
Prag – Nusle (heute)
Nach acht Tagen [Anm.: im Kellerverlies der Schule] wurden wir mittels Autocar unter Steinwürfen ins [berühmt-berüchtigte] Gefängnis Prag-Pankrác gebracht [Anm.: das sich nur ca. 1 km von der Schule entfernt befindet] (wir mußten in den langen Gängen Kopf zur Wand und Hände hoch stehen, usw.), immer noch mit dem Versprechen, der Wiedererlangung der Staatsbürgerschaft der ČSR und der bevorzugten Abfertigung der Mütter mit kleinen Kindern. Über den Hunger, den Schmutz und das Ungeziefer erübrigt sich eine nähere Schilderung...
Prag – Gefängnis Pankrac (historische Luftaufnahme)
Ich (damals 25 Jahre alt) wurde dann von Mama und Großmama getrennt - unter dem Vorwand einer besseren Unterbringung für kleine Kinder. Es folgte ein 48-stündiger Transport in Güterwaggons ohne Essen nach einem Barackenlager in der Nähe von Křivoklat [dt.: Pürglitz] bei Rakovník [dt.: Rakonitz, ca. 40 km westlich von Prag]. Kälte. Es regnete in die Stuben, die mit 20 – 30 Personen belegt waren. Hunger. Kinder und Sieche wurden von Seuchen hingerafft.
Rakovník/Rakonitz – Rathaus
Rakovník/Rakonitz – Stadtpfarrkirche
Ich versuchte – da ich wegen der kärglichen Lagerkost nicht ausreichend stillen konnte – etwas Milch als Zukost für den Kleinen zu bekommen, vergebens, trotz meiner Tschechischkenntnisse! Der Lagerleiter gestattete dann ausnahmsweise, daß ich mit dem Kleinen wegen Unterernährung ins Rakonitzer Krankenhaus fahren durfte. Dort abgewiesen [!!!] (als Internierte), versuchte ich, mit einem Empfehlungsschreiben in die Prager Kinderklinik aufgenommen zu werden, in Begleitung eines Gardisten in Zivil. Wir gingen den ganzen Vormittag durch Prag, von Kinderspital zu Sanatorium, usw. Trotzdem ich die Kosten auch für das internierte Kind einer tschechischen Mutter mit übernehmen wollte, wurden weder sie, noch ich aufgenommen. Ich hätte mich außerdem eventuell noch verpflichtet, dort zu arbeiten, es wurde jedoch alles von den Nonnen [Schwestern] aus nationalen [ethnischen] Gründen abgeschlagen.
Raudnitz an der Elbe / Roudnice nad Labem: Stadtpfarrkirche
Raudnitz an der Elbe / Roudnice nad Labem: Schloß
Ich kam dann ins berüchtigte Lager „Hagibor“ [im Bezirk Prag-Strašnice / Prag-Ost] (früher Zwischen-station der Juden auf dem Weg nach Theresienstadt), dann zu einem Bauern nach Raudnitz an der Elbe [tschech.: Roudnice nad Labem], zum Rübenhacken. Dabei mußte ich machtlos zusehen, wie unser kleiner Junge vor Hunger weinte und immer weniger [dünner] wurde und ich nicht helfen konnte. Dann kam ich ins Lager Modřany [Stadtteil von Prag / Prag-Süd], mit dem Versprechen, dieses wäre speziell für Kranke, Kinder und alte Leute errichtet worden. Es war jedoch zu jener Zeit das schlechteste Lager, das ich kennenlernte. Ich mußte mit dem Kind auf der nackten Erde schlafen; früh [am Morgen] gab es bitteren schwarzen Kaffeeersatz, mittags fünf kleine, halb verfaulte Pellkartoffeln in die hohle Hand (im Juni!), abends nichts. In diesem Lager starb unser kleiner Liebling am 19.06.1946 und wurde als einziger auf dem Modřaner Friedhof begraben (angeblich). Die anderen [Toten] kamen ins Massengrab. Der Tod forderte damals zahllose Opfer unter den kleinen Kindern und Personen mit nicht ganz fester Gesundheit. Ich war damals der Verzweiflung nahe. Ich wußte nichts von Dir, nichts von Mama und Großmama.
Prag – Modřany (heute)
Dann kam ich in schweren Arbeitseinsatz ohne Bezahlung, meine Hände tragen jetzt noch die Spuren davon. Mit Hilfe guter tschechischer Bekannter machte ich dann Mamas und Großmamas Aufenthaltsort ausfindig. Sie waren bis April 1946 im Gefängnis in Pankrác [Bezirk Prag-Pankrác] inhaftiert.
Mit dem 1. Transport [Anm.: Heimkehrertransport] fuhr ich am 02.03.1946 von Prag nach Hessen; Mama und Großmama kamen im April 1946 ebenfalls mittels Transport auch hierher. Wir fristen hier als 'Untermieter' das Leben, und sind mit einem Wort – ohne Übertreibung – im eigenen Land „heimatlose Bettler“.
Heimkehrertransport
[Ende des Briefes]
Kurze Schilderung der geschichtlichen Ereignisse im Mai 1945 in Prag:
Am 05. Mai 1945 wurden die Prager über das Tschechische Radio zum Aufstand gegen die Deutschen aufgerufen. Neben Barrikadenkämpfen begannen sofort blutige Übergriffe gegen deutsche Zivilisten und verwundete Soldaten in den zahlreichen Lazaretten der Stadt. Am selben Tag schloß das nationaltschechische Militärkommando Groß-Prag ein Abkommen mit der 1. Division der an sich mit dem Deutschen Reich verbündeten russische Wlassow-Armee (ROA). Diese russische, antikommunistische Division marschierte am 06. Mai von Westen gegen das aufständische Prag, griff dort am 07. Mai die deutschen Stellungen von Westen her an und besetzte bis zum Abend weite Teile der Stadt. Auch der kommunistisch beeinflusste Tschechische Nationalrat (ČNR) hatte das Vorgehen der Wlassow-Leute in einer Punktation vom 07. Mai gebilligt, sich aber wenig später schon wieder distanziert. Als sich abends abzeichnete, dass die Amerikaner nicht nach Prag marschieren würden, sondern die Stadt von der Roten Armee besetzt werden würde, zogen sich die Wlassow-Truppen noch in der Nacht auf den 08. Mai gegen Pilsen zurück, um der Rache Stalins zu entgehen.
Die Position der deutschen Truppen in der Stadt, vor allem Teile der Waffen-SS-Division „Wallenstein“, verbesserte sich dadurch aber nur unwesentlich. Ihr Ziel war eine Kapitulation gegenüber den Amerikanern, und ihr befehlshabender General Rudolf Toussaint unterzeichnete am 8. Mai 1945 um 16.00 Uhr gegenüber dem ČNR eine Kapitulationsurkunde, die den Soldaten freien Abzug gewährte. Letzterer wurde noch vor Ende der Nacht vollzogen. Nur ein kleiner Teil der rund 42.000 Prager Deutschen und weiterer deutscher Zivilisten konnte die Stadt zusammen mit den Truppen verlassen. Als die sowjetischen Truppen der 1. Ukrainischen Front Koniews die Stadt am Morgen des 9. Mai 1945 im Zuge der „Prager Operation“ erreichten, ging der bis dahin auch militärische Aufstand der Tschechen in eine Gewaltorgie gegen die verbliebene deutsche Minderheit über, der nach tschechischen Angaben in zwölf Tagen etwa 27.000 deutsche Zivilisten zum Opfer fielen. Die überlebenden Deutschen wurden in Kinos, Schulen und im Fußballstadion von Prag-Strahov interniert, in die Landwirtschaft verbracht oder in das KZ Theresienstadt deportiert, Tausende von vermeintlichen Kollaborateuren wurden in wilden Gewaltexzessen ohne Gerichtsverfahren ermordet. Die Befreiung der Tschechen mündete bald in eine erneute Besetzung. Der sowjetische Geheimdienst „Smersch“ ließ mehrere hundert verwundete Wlassow-Soldaten ermorden, der Vorsitzende des ČNR, Pražák, verlor seine Professur, und weitere Mitglieder des ČNR wurden verhaftet oder hingerichtet.
Quelle: http://de.wikipedia.org/wiki/Geschichte_Prags#20._Jahrhundert
Prag 1945: Einzug Marschall Koniews und der Roten Armee in Prag
1)einige Angaben zu den Mißhandlungen und Tötungen an den Deutschen in der ČSR2):
Brünner Todesmarsch (Brno): zwischen 4.000 und 8.000 Tote, plus ca. 1.000 Tote auf österreichischer Seite
http://de.wikipedia.org/wiki/Br%C3%BCnner_Todesmarsch
Brücke von Aussig (Ústí nad Labem): Massaker von Aussig: zwischen 100 und 2.700 Tote
http://de.wikipedia.org/wiki/Massaker_von_Aussig
Erschießungen von Saaz (Žatec): 03. Juni 1945: zwischen 2.000 und 5.000 Tote
http://de.wikipedia.org/wiki/%C5%BDatec#Geschichte
Gefängnis Prag-Pankrác (Praha): Inhaftierung / Folterung von Deutschen:
http://de.wikipedia.org/wiki/Pankr%C3%A1c
Vertreibung der Deutschen aus der ČSR:
http://de.wikipedia.org/wiki/Odsun [„Odsun“ = Austreibung]
Prager Aufstand gegen die Deutsche Wehrmacht am 05. Mai 1945:
http://en.wikipedia.org/wiki/Prague_uprising [nur auf englisch, nichts auf Deutsch!!]
[Anm.: die hier gezeigten Bilder wurden von uns nachträglich in den Bericht eingefügt]
2) Anm.: das Land hieß zwischen 1918 und 1960 nicht ČSSR, sondern „nur“ ČSR – das 2., kommunistische „S“ wurde erst 1960 nach einer Verfassungsreform und einer Umbenennung des Staatsnamens hinzugefügt…