Armer Cabu, der Fußballfans gerne als typische mit Chauvinismus dopende Spießbürger beschrieb! Zwei Tage nach seinem Tod, Freitag den 9. Januar 2015 schimmerte in einem Sportstadium zum ersten Mal ein Funken kritischen Geistes. Korsische Fans haben in der Minute des Schweigens im Andenken an die Attentatsopfer ein Transparent hochgehalten, auf dem stand: „Katar finanziert den PSG - und den Terror.“

Eine hübsche Provokation, ein erfrischender Lufthauch in diesen Momenten des massiv geteilten Schmerzes und der allgemeinen Verwirrung. Vielleicht hatte dieser nachdrückliche Aphorismus die shortbekleideten Milliardäre des Paris Saint-Germain destabilisiert, jedenfalls haben sie 2 zu 4 gegen Bastia verloren- einer Mannschaft, die ganz unten in der Rangliste der Fußballklubs steht. Und drei Tage später fühlte sich der Fan Nummer 1 des PSG, Nicolas Sarkozy, zur folgenden Antwort verpflichtet: „ Glauben Sie etwa, dass Herr Mitterrand, dass Herr Chirac, und ich selber gestern, dass Herr Hollande heute solch freundschaftliche politische Beziehungen zu Katar pflegen würden, wenn wir hinnehmen würden, dass dieses Land nur  (sic) der Finanzierer des Terrors  wäre? (...)  Wenn ich mir die Arbeit der Architekten weltweit ansehe, wo arbeiten sie, wo bauen sie? (...) Derzeit zählen  die Länder am Persischen Golf (wieder sic)  zu den wenigen arabischen Ländern, welche  den Islam und die Modernität in Einklang zu bringen wissen (zum 3. Mal sic) “* Wetten wir, dass die Richter, die Menschen wegen „Apologie des Terrors“ frisch und muntereinlochen in diesem Fall lieber weg sehen werden. Doch sind Katars Verbindungen zu den salafistischen Kampfgruppen genug dokumentiert worden.

Die USA haben nicht nur ein strategisches Bündnis mit den reaktionärsten Ölmonarchien geschlossen, sondern auch undurchsichtige Beziehungen mit einem gewissen politischen Islam schon lange gepflegt. In Ägypten haben ihre Geheimdienste die Muslimbrüder gegen eine Armee und einen arabischen Nationalismus unterstützt, welche zu sehr UdSSR-freundlich gesinnt waren. In Afghanistan haben sie die Vorfahren der Taliban im Krieg gegen die sowjetischen Truppen mit Waffen beliefert. In neuerer Zeit  haben sie den Dschihad in Libyen gegen Gaddafi und in Syrien gegen Al-Assad gespeist. Dasselbe hat Israel getan, als er im Gazastreifen die Hamas verwurzelt hat, um Arafats PLO zu schwächen. Eben dadurch hat der Westen das Auftauchen eines Feindes nach dem eigenen Ebenbild begünstigst. Der religiöse Fundamentalismus scheint für die an den eigenen Obskurantismus angehafteten neokolonialen Mächten  wie maßgeschneidertzu passen: vom born-again Christian George W. Bush und dessen evangelikale Falken mit ihrem Schlachtruf God save America - nunmehr der Zwillingsbruder des hochberühmten Allahu Akbar - bis zum durchaus rechtsradikal gesinnten Netanjahu und dessen Koalition ultraorthodoxer Siedler. Ihre Bande mit dem angeblichen Rigorismus  der scheinheiligen Könige der Arabischen Halbinsel ergänzen das Bild: man badet bis zum Hals in der Verschwörung der Anbeter des Pinke-Gottes! Und so kann der angeblich  kulturfreundliche Spiel von Spiegeln die - geopolitischen, sozial-wirtschaftlichen - zugrunde liegenden  Interessen abblenden, indem er die Völker in einer Erstarrung behält,  die uns um zehn  Jahrhunderte früher - zur Zeit der Kreuzzüge - zurückverlegt.

Also: die Gefahr des fundamentalistischen Islams gibt es schon, sie ist aber so etwas wie das Geschöpf von Frankenstein, das ideale Feindbild, das Ad-hoc-Schreckgespenst, ein Karikatur-Spiegelbild der Aggressivität des Empires - man braucht nur zu sehen, wie die Propaganda-Videos des IS die nächtlichen  Angriffe der US-Marines nachäffen : dieselben Stiefeltritte gegen die Türen,  die selben Uniformen, die selbe, am Helm befestigte Infrarotkamera, dieselbe Brutalität.  Nur dass jetzt die Demütigung der Opfer bis  zum letzten Augenblick, bis zu deren Hinrichtung gezeigt wird, anstatt infolge eines Irrtums durchzusickern, wie bei den Misshandlungen in Abu Ghraib. Dasselbe Design wird auch bei der Köpfung der Geisel benutzt, deren orangefarbene Uniform klar auf Guantanamo anspielt. Beide Gegner inspirieren einander in einer Eskalation mit Weltuntergangnachgeschmack. Der einzige Unterschied liegt darin, dass das Kalifat von Al-Baghdadi zu Propagandazwecken den Gräuelinszeniert, wobei das Abendland in der Faschingstracht der Menschenrechte heuchlerisch herumstolziert - und  die Leiche des summarisch hingerichteten Ben Ladens hurtig verschwinden lässt.

Als Napoleons Heer 1808 die iberische Halbinsel im Namen der Aufklärung überfiel, wurde in den Reihen der spanischen Guerillas folgende Parole laut “Wenn das Freiheit heißen soll, hoch sollen die Ketten leben!“ Die todbringende Ideologie des IS, die nun bis uns Herz Europas importiert ist, resultiert ebenfalls als faule Frucht aus drei Jahrzehnten  der ausländischen Besatzung, der  kolonialen Hoffart und der geheuchelten Zivilisierung, der unbestraften Ausschreitungen und Missbräuche, der Chaos- und Zerfallsstrategie, der Marionettenregierungen, der Korruption, der massiv geschürten ethnischen und religiösen Spaltungen ... Gibt man auch die Hunderttausende Tote im irakisch-iranischen Konflikt,  und das jahrelange  Embargo zwischen dem ersten und dem zweiten Golfkrieg dazu, wird einem klarer, auf welchem Boden die Dschihad-Psychopathen gedeihen.

So hat der spanische Künstler Noaz den zweihundertsten Jahrestag der liberalen Verfassung zelebriert, die 1812 in Cádiz von den Cortes generales (dem Parlament) verabschiedet und vom Volke „ La Pepa “ genannt wurde; die Absolutisten- die konservativen Anhänger Ferdinands des Siebten und dessen autoritärer Restauration-   riefen entgegen: „Hoch sollen die Ketten leben!“ und fügten hinzu: „ Tod den Negern (i.e.: die Liberalen) und der Nation! “ (der nach La Pepa, einem angeblich liberal-französischen Begriff, die Souveränität zukam) [Anm. v. Tlaxcala]

 

... und wird gegen uns geführt

Obwohl sie radikalisiert und von der Multi Al-Kaida - oder von der IS GmbH?- rekrutiert worden sind, sind Coulibaly und die Gebrüder  Kouachi sowohl wie Merah urechte Erzeugnisse der französischen Gesellschaft.  Mit 18 verlässt Chérif Kouachi mit leeren Händen das Waisenheim, wo er nach dem Tod seiner Mutter untergebracht wurde. Er erlebt das Leben auf der Straße, wo er manchmal mitten im Winter schläft; dann den Rap; dann die Moschee; am Ende das Gefängnis... Amedy Coulibaly will Jugenderzieher werden. Mit 18 nimmt er an einem Bankeinbruch teil; sein 19jähriger Komplize wird von der Polizei erschossen. Im Gefängnis bringt er sich selber aufs Laufende, filmt heimlich die Haftbedingungen, mit der Absicht, sie später anzuprangern. Wäre er 20 Jahre früher zur Welt gekommen, so hätte er vielleicht Jacques Mesrine* bewundert und wäre dessen Spuren gefolgt - aber heute bietet sich den Rebellen als die absolute Negativität vorherrschend der Fundamentalismus der Takfiri [2],  deren verdorrte, bittere, rachsüchtige Spiritualität. Nun erzählt man uns, dass jene Chaoten Ungeheuer sind, dass ihre Taten sich ausschließlich durch eine fremde, barbarische Ideologie erklären lassen. Ein Versuch, sie zu verstehen, wäre schon eine Rechtfertigung ihres Verbrechens. Zu erforschen, welche  Rolle eine millenaristische Revolte in ihrer blutigen Eskapade gespielt haben kann, hieße, sie zu apologisieren. Und jedoch, wenn man sie indem man ihnen dagegen ihr Menschentum abspricht um sich damit selber der Verantwortung zu entlasten, so erhebt man die Verblendung in den Rang eines anderen Fanatismus: jener der strammstehenden Spießbürger. In diesem unsicheren Jahresanfang hat allerdings der mörderische Wahnsinn ja nicht siebzehn, sondern zwanzig Opfer gebracht.

Eine Gruppe ehemaliger Zöglinge des Waisenheimes in dem Département Corrèze, wo die Gebrüder Kouachi aufgewachsen sind, hat am 11. Januar einen offenen Brief geschrieben:“  „Wir verurteilen die Taten von Männern, die wir nicht wieder erkennen, und nicht unterstützen. Wir wissen, wer sie einmal waren und wir meinen, dass unsere Gruppe weiß, wie sie so weit gekommen sind. Sie sind unsere Freunde, unsere Ex-Lover, unsere Vertrauten, unsere Zimmergenossen, unsere Rivalen gewesen, wir haben sie geliebt, manchmal gehasst. Das sind verlorene Kinder, FRANZOSEN, Frankreichs Kinder - und Waisen.  Frankreich hat sie genährt, die Liebe zu diesem Land hat sie genährt, auch der Hass der Wahnsinnigen hat sie genährt! Jene, die es geschafft haben, ihnen den Glauben einzuflößen, dass ihre Rettung im Wahnsinn eines Gottes lag, der keiner ist, haben sie genährt. Nun lasst uns davon reden, was sie getan haben, was sie waren, was aus ihnen geworden ist und weshalb. Und lasst uns vor allem  kämpfen! Lasst uns gemeinsam  die Ursache und nicht die Folgen bekämpfen, lasst uns miteinander gemeinsam mobil machen) Lasst uns miteinander reden, zueinander wieder finden!“

AdÜ

*Wir haben versucht, das Kauderwelsch des ehemaligen Präsidenten entsprechend zu wiedergeben

**Jacques Mesrine (1936-1979): Staatsfeind Nr. 1, Volksheld als der Mann mit den tausend Masken, von der Polizei kaltblütig hingerichtet(21 Schüsse). Nach der Veröffentlichung seiner Autobiographie, erließ das Parlament das sogenannte „Loi Mesrine“: Niemand dürfe mehr Gewinn mit der Veröffentlichung seiner Verbrechen machen

Anm. d. Verf.

(1)  Louis Caprioli, ehemaliger Vizedirektor der Terrorbekämpfungsabteilung der Geheimdienste, lässt den 8. Oktober 2012 in der Sendung C dans l’air (Spricht sich herum) von  France 5 Folgendes auffliegen:“ Franzosen  fahren nach Tunesien zum Training in Dschihad-Lagern, die vom Katar finanziert werden.“ Am selben Tag  erklärt ein ehemaliger Leiter der Geheimdienste de Zeitung: „Vom Katar und Saudi-Arabien wagt man kein Wort zu sagen, aber es wäre vielleicht auch angebracht, dass die Geldern dieser  lieben Menschen nicht weiter einige besorgniserregende Handelungen finanzieren“.

(2)  Die Takfiri sind Anhänger vom Takfir wal Hijra, „Fluch und Exil“, einer fundamentalistischen Bewegung die die Rückkehr zu einem angeblich Urislam predigt und zu bewaffneten Gruppen abartet, welche die anderen Muslims als Ungläubige betrachten.


Danke Tlaxcala
Quelle: https://cqfd-journal.org/Charlie-Hebdo-Cette-guerre-n-est
Erscheinungsdatum des Originalartikels: 13/03/2015
Artikel in Tlaxcala veröffentlicht: http://www.tlaxcala-int.org/article.asp?reference=14403