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Freitags-Kommentar vom 23.12.2016,
von Ulrich Schlüer, Verlagsleiter «Schweizerzeit»

 

Einst Bundesrätin – jetzt Brüsseler Laufmädchen


Die Schweiz kriecht vor der EU. Symbolbild von gaesteb / pixelio.de

Die Landesregierung präsentiert Vorschläge für Verfassungsänderungen. Umgesetzt werden sie aber nur, wenn Brüssel dafür grünes Licht erteilt.

Der Verfassungsbruch ist Tatsache: Der Entscheid von Volk und Ständen gegen die Masseneinwanderung wird nicht umgesetzt – weil er Brüssel nicht passt.

Man wolle indessen nicht in ein Verfassungsdilemma geraten, doziert die für Rechtliches zuständige Bundesrätin Simonetta Sommaruga vor den Medien. Deshalb müsse man die faktische Nicht-Umsetzung eines Volkenscheids – eben noch als mit der Verfassung vereinbar erklärte Schein-Umsetzung – mit Hilfe einer rasch vorzunehmenden Verfassungsanpassung mit der Verfassung wieder in Einklang bringen…

Kompliziert, widersprüchlich, arrogant – Abbild der in sich verschärfendem Streit die Unterwerfung der Schweiz unter die EU-Oberherrschaft Brüssels anpeilenden Bundesratsmehrheit.

Tohuwabohu

Wie diese «Verfassungsanpassung» genau geschehen soll, das kann Frau Sommaruga zur Zeit noch nicht genau sagen. Sie behauptet, zwei bundesrätliche Vorschläge dazu würden für eine Vernehmlassung freigegeben – auf dass alle zur Teilnahme an dieser Vernehmlassung Auserwählten ihren Senf dazu beitragen können. Die Wahrheit zur widersprüchlichen «Offerte» ist freilich ein andere: Im Bundesrat herrscht heillose Uneinigkeit, herrschen Zwist und Streit darüber, wie die von Bundesbern vorsätzlich geschändete Bundesverfassung «repariert» werden soll.

Entsprechend grotesk sind die beiden zur Vernehmlassung freigegebenen Vorschläge: Man könne – so lautet der erste Vorschlag – den Artikel gegen die Masseneinwanderung, dessen Umsetzung Bundesbern mit Blick auf Brüssel verweigert, in der Verfassung einfach stehen lassen. Man müsse bloss die darin enthaltene Umsetzungsfrist aus dem Artikel entfernen…

Das wird lustig für Bundesbern: Man kann fortan grundsätzlich alles, jede unausgegorene Idee, jeden – Entschuldigung! – Furz in die Verfassung schreiben – einfach ohne Umsetzungsfrist. Auf dass sich männiglich an einer hineingeschriebenen Neuerung ergötze, ohne dass diese je umgesetzt werden müsse – jedenfalls nicht, solange sich Brüssel dazu negativ äussert.

Damit würde sich unsere «Landesregierung» von der offenbar zunehmend als untragbar empfundenen Last endlich befreien können, überhaupt noch regieren zu müssen. Der Bundesrat könnte sich fortan – hin und wieder neckische oder angeblich nützliche Vorschläge unverbindlich in die Verfassung schreibend – frohgemut an allen Privilegien und am doch recht erklecklichen Salär erfreuen – und im übrigen nur noch auf Machtwörter aus Brüssel warten.

Der andere Vorschlag ist nicht minder «originell»: Die Schweiz solle sich grundsätzlich der EU-Gesetzgebung unterwerfen. Diese Absicht sei als «genereller Vorbehalt» der Schweizerischen Bundesverfassung überzustülpen. Auch mit dieser «Lösung» könnte Bundesbern jeden Wunsch, jedes Anliegen, jeden Traum, jeden Spleen in die Verfassung schreiben – umgesetzt würde ja nur, was Brüssel billige. Diese Variante von «Verfassungsanpassung» würde die Bundesräte faktisch ebenfalls von fast aller Regierungsarbeit entbinden. Die Mitglieder der Landesregierung hätten im wesentlichen nur noch Laufmädchen- und Laufburschen-Aufgaben zwischen Brüssel und Bern sowie zwischen Bern und Brüssel auf sich zu nehmen – und das Reisen verspricht bekanntlich Unterhaltung und Lustbarkeit.

Ratlos

Wohl dutzendfach wurde Frau Sommaruga, als sie diese beiden Varianten bundesrätlichen «Den-eigenen-Kopf-aus-der-Schlinge-des-Verfassungsverrats-Ziehens» den Medien präsentierte, immer wieder die gleiche Frage gestellt: Was geschieht, wenn der düpierte, ob des Bundesberner Verfassungsbruchs empörte Souverän beide Varianten bundesrätlicher Flickschusterei an der gröblich verletzten Verfassung zwecks Unterwerfung der Schweiz unter Brüssels Vorherrschaft zurückweisen, also mit schroffem Nein quittieren würde?

Die Antwort der Bundesrätin auf diese in einer echten Demokratie völlig selbstverständliche Frage war so vielsagend wie bezeichnend: Sie weiss schlicht keine Antwort darauf. Ob sie sich bereits in einem Epigonen-Staat der als verstorben geglaubten Sowjetunion wähnt, wo Stimmbürgerinnen und Stimmbürger zwar noch an die Urne gerufen werden – aber ausschliesslich als Ja-Sager. Wer sich zu einem Nein erfrechen, also Renitenz bekunden würde, der könnte nach seiner Stimmabgabe also nicht mehr nach Hause zurückkehren. Seine Schritte würden durch obrigkeitlichen Zwang vielmehr in Richtung Kerker gelenkt – im Stile von «Gulag einfach».

Klar wird aus der Nicht-Antwort immerhin: Frau Sommaruga will die Schweizerinnen und Schweizer, die den Beitritt zur EU freiwillig nie und nimmer zu vollziehen bereit sind, zur Zwangsheirat mit Brüssel verdonnern: Und bist du nicht willig, so brauch’ ich Gewalt…

Drohkulisse und Lügen

Die Zwangsheirat soll erfolgen unter der zum x-ten Mal wiederholten Drohung, die sich längst als unverblümte obrigkeitliche Lüge entpuppt hat. Sie lautet: Wenn sich die Schweiz nicht endlich den Wünschen und Druckversuchen Brüssels ergebe, dann werde sie von der EU in die Hölle vollständiger Isolierung geworfen!

Diese Drohung – auch aus bundesrätlichem Mund wiederholt in die Welt gesetzt – ist nicht bloss dumm. Sie ist falsch! Sie fusst auf lauter Lügen!

Erste Lüge

Lüge Nummer eins: Die Schweiz würde, wenn sie die EU-Personenfreizügigkeit nicht einem unabänderlichen Gottesgebot vergleichbar hinnehme, die Bilateralen verlieren und damit vom für sie lebenswichtigen Zugang zum EU-Binnenmarkt ausgeschlossen.

Tatsache ist: Der Zutritt der Schweiz zum EU-Binnenmarkt (genauer: der von beiden Vertragspartnern garantierte gegenseitige Marktzutritt) wurde mit dem Freihandelsvertrag von 1972 Wirklichkeit. Dieser Freihandelsvertrag gehört nicht zum Paket der sog. Bilateralen I, welches mit einer Guillotineklausel ausgestattet worden ist.

Der Freihandelsvertrag von 1972 wird von keiner der beiden Vertragspartnerinnen – weder von der EU noch von der Schweiz – irgendwie bestritten oder in Frage gestellt. Er funktioniert – das bestätigen EU und die Schweiz einvernehmlich – einwandfrei. Zusätzlich sind die darin festgehaltenen Vereinbarungen längst solide abgesichert in Form von durch beide Vertragsparteien unterstützte und in Kraft gesetzte WTO-Regeln – zum Beispiel mit einem gegenseitig zu respektierenden Diskriminierungsverbot.

Zweite Lüge

Zweite Lüge: Wenn die Schweiz auf den von Volk und Ständen gefassten Beschlüssen gegen die Masseneinwanderung beharre, würden «die Bilateralen» dahinfallen.

Tatsache ist: Der Volksentscheid vom 9. Februar 2014 gegen die Masseneinwanderung verlangt – weil sich die Einwanderungserwartung aus dem Vertrag in der Realität verzehnfacht hat – eine Neuaushandlung entweder von Teilen oder des ganzen Vertrags über die Personenfreizügigkeit. Das Recht auf solche Neuaushandlung wird im Vertrag selbst beiden Vertragsparteien ausdrücklich zugesichert. Wer es wahrnimmt, begeht keineswegs Vertragsbruch. Er kann zwar das Ergebnis der von ihm verlangten Neuverhandlungen nicht allein festlegen, aber er hat das ausdrückliche Recht, Neuverhandlungen zwecks neuer Kompromissfindung zu verlangen. Ein Recht, auf welches die Vertragspartnerin einzugehen verpflichtet ist.

Dritte Lüge

Als dritte Lüge wird oft behauptet, mit dem Begehren nach Vertragsänderungen würden «die Bilateralen» insgesamt dahinfallen – und das wäre eine Katastrophe für die Schweiz.

Tatsache ist: Ein Paket von sieben bilateralen Vereinbarungen, die seit 2001 in Kraft sind, wurde seinerzeit als Paket I bezeichnet. Die sieben Verträge in diesem Paket I (Personenfreizügigkeit, Gütertransit, Luftverkehr, Forschung, Landwirtschaft, öffentliches Beschaffungswesen, technische Handelshemmnisse) wurden mittels einer sog. Guillotine-Klausel miteinander verbunden: Würde von einer der beiden Vertragspartnerinnen einer diesen sieben Verträge gekündigt, würden die anderen sechs innert eines halben Jahres dahinfallen.

Nun ist aber ein in jeder Beziehung vertragskonformes Begehren nach Neuverhandlungen der Personenfreizügigkeit weder eine Vertragskündigung noch ein Vertragsbruch. Das Recht, Neuverhandlungen zu verlangen, ist vielmehr ausdrücklich Teil des Vertrags; es wird beiden Parteien formell zugestanden.

Tatsache ist weiter, dass diese Guillotine-Klausel allein für die sieben Abkommen dieses Pakets I gilt. Diese sieben Verträge sind zweifellos von gewisser Bedeutung. Aber selbst der vollständige Wegfall dieser sieben Verträge würde die Schweiz gewiss nicht in ihrer Existenz bedrohen.

Der wichtigste Vertrag zwischen Bern und Brüssel, der bereits erwähnte Freihandelsvertrag von 1972, steht ausdrücklich nicht unter dieser Guillotine. Insgesamt existieren heute zwischen der Schweiz und der EU gegen zweihundert bilaterale Abkommen unterschiedlichen Gewichts – aber nur sieben davon unterstehen der Guillotine, welche mit dem vertragskonformen Begehren nach Nachverhandlungen zur Personenfreizügigkeit keineswegs in Funktion tritt.

Es sind nicht Vertragsbedingungen, die der Neuaushandlung der Personenfreizügigkeit im Weg stehen. Es ist allein die in Verwaltung, Parlament und Bundesrat vorherrschende «Höseler-Mentalität» gegenüber Brüssel, welche den Bundesrat ganz offensichtlich seiner Regierungsfähigkeit beraubt hat.

Vierte Lüge

Die vierte Lüge fusst auf der haltlosen Behauptung Bundesberns, die Bilateralen stünden einzig und allein im Interesse der Schweiz. Wer dies behauptet, würde der EU ja unterstellen, in ihrem Dienst stünden derart fragwürdige, derart schlechte, derart unfähige Diplomaten, dass Brüssel nicht einmal seine ureigenen Interessen in Verhandlungen wahrzunehmen in der Lage sei. Solch offensichtlichen Unsinn behaupten nicht einmal die fanatischsten unten den blinden EU-Beitritts-Befürwortern unter der Bundeskuppel.

Wer den Inhalt des Pakets der Bilateralen I unvoreingenommen prüft, stellt relativ rasch fest: Der EU erwachsen aus diesen Verträgen mindestens gleich viele gewichtige Vorteile wie der Schweiz. Leichtfertige Annullierung dieser Verträge ist weiss Gott nicht zu befürchten. Die Bestimmungen des Transitabkommens zum Landverkehr sind für die grossen, auf Gedeih und Verderb auf eine günstig zu passierende Gotthardroute angewiesenen Spediteure in Italien, in Belgien, in Holland und in Norddeutschland gar von existenzieller Bedeutung angesichts ihrer Wettbewerbssituation gegenüber den Billig-Transporteuren in Osteuropa. Wer glaubt, Italien, Belgien, die Niederlande und Deutschland würden die elementaren Interessen dieser Grossfirmen – ausnahmslos gewichtige Arbeitgeber in ihrer Region – leichtfertig Brüsseler Betonköpfen für ideologisch motivierte Rankünen gegen die Schweiz opfern, täuscht sich gewaltig.

Die Schweiz als Handelspartnerin

Überhaupt: Die Schweiz ist nach den USA die zweitwichtigste Handelspartnerin der EU – in einzelnen Bereichen muss sie auch noch China den Vortritt lassen. Die – bekanntlich auf unabsehbaren Schuldenlöchern sitzenden – EU-Staaten erzielen gegenüber der Schweiz insgesamt jährlich bedeutende Überschüsse in zweistelliger Milliardenhöhe.

Schweizer Kunden, die Waren oder Dienstleistungen aus EU-Ländern beziehen, sind zudem – im heutigen Europa keineswegs eine Selbstverständlichkeit – zahlungsfähig. EU-Lieferanten erhalten von der Schweiz Cash! Was Deutschland ins bankrotte Italien, ins bankrotte Griechenland, ins längst zahlungsunfähige Frankreich liefert, wird indessen «bezahlt», indem die bei der Deutschen Bundesbank als theoretisches «Guthaben» ausgewiesenen sog. Target-Kredite einfach laufend erhöht werden. Faktisch muss die Deutsche Bundesbank deutschen Herstellern und Dienstleistern die Guthaben von Kunden aus den genannten Ländern bezahlen. Italien steht bei der Deutschen Bundesbank bezüglich solcher Target-Kredite heute bereits mit über dreihundertfünfzig Milliarden Euro in der Kreide!

Glauben Bundesberns Ausverkäufer schweizerischer Interessen – solche sitzen im Bundesrat, im Parlament, in den Wirtschaftsverbänden und in den Gewerkschaften –, die dringend auf gutes Geld angewiesenen EU-Exportländer würden Brüsseler Ideologen zugestehen, allein aus politischem Trotz funktionierende, zu echten Zahlungen führende Kundenbeziehungen mir nichts dir nichts aufs Spiel zu setzen – hängen doch von diesen funktionierenden Kundenbeziehungen Abertausende Arbeitsplätze in den Sitzstaaten dieser Konzerne ab. Sind Bundesberns Betonköpfe in ihrer Leidenschaft für Brüssel bereits derart erblindet, dass sie davon ausgehen, Frau Merkel würde lieber ihre Wiederwahl gefährden, als dass sie Arbeitsplätze sichernde Kundenbeziehungen zwischen der Schweiz und Deutschland zu wahren und zu pflegen bereit wäre?

 

Das heutige «Brisant» ist das letzte des Jahres 2016. Das nächste Bulletin erscheint am 6. Januar 2017. Wir entbieten den Leserinnen und Lesern unseres Freitags-Kommentars die besten Wünsche zu den bevorstehenden Weihnachtstagen und für einen guten Rutsch ins Jahr 2017.