Freitags-Kommentar vom 09.12.2016,
von Ulrich Schlüer, Verlagsleiter «Schweizerzeit»
Ceterum censeo
Symbolbild von Dr. Stephan Barth
(pixelio.de)
Die von einer Parlamentsmehrheit durchgesetzte Nicht-Umsetzung des Volksentscheids gegen die Masseneinwanderung ist ein Frontalangriff der Classe politique auf die direkte Demokratie. Hinter verbaler Kraftmeierei soll der Verrat an den Stimmbürgern getarnt werden.
Dass die CVP Mühe bekundete, den von FDP-Ständerat Philipp Müller zusammen mit der SP eingefädelten Anschlag auf den Volksentscheid vom 9. Februar 2014 gegen die Masseneinwanderung mitzutragen, hat ihr lümmelhafte Schelte eingetragen.
«Verarscht»
Sie habe die Stimmbürger «verarscht», warf in Proleten-Tonart die sich bereitwillig als Marionette an den von Müller beherrschten Fäden tanzende FDP-Präsidentin Petra Gössi der CVP vor. Denn allein die Nicht-Umsetzung des Volksentscheids gegen die Masseneinwanderung – so belferte Müllers Mädchen in die ihr hingestreckten Mikrophone – rette «die Bilateralen» und damit den Zugang der Schweiz zum EU-Binnenmarkt.
Eine Behauptung, die als plattes Lügenkonstrukt bereits wiederholt widerlegt worden ist. Ob der schimpfenden FDP-Präsidentin der Zusammenhang zwischen Personenfreizügigkeit und bilateralen Verträgen wirklich völlig unbekannt ist?
Der Zugang zum Binnenmarkt
Erstens: Der Zugang der Schweiz zum Binnenmarkt der EU wird nicht durch irgend welche bilateralen Verträge, vielmehr durch den 1972 zwischen Bern und Brüssel vereinbarten Freihandelsvertrag gewährleistet – der in der Schweiz vom Souverän genehmigt worden ist. Dieser Vertrag unterliegt keinerlei Guillotine. Weder Bern noch Brüssel stellen ihn irgendwie in Frage. Im Gegenteil: Beide Seiten attestieren dem Vertrag bestes, beiden Parteien Profit sicherndes Funktionieren.
Längst ist der Freihandelsvertrag auch durch WTO-Vereinbarungen abgesichert worden – z.B. durch ein von beiden Seiten ausdrücklich begrüsstes Verbot, die Gegenseite irgendwie zu diskriminieren.
Kein Vertragsbruch!
Zweitens: Der Volksentscheid vom 9. Februar 2014 gegen die Masseneinwanderung stellt keinerlei Bruch mit dem bilateralen Vertrag über die Personenfreizügigkeit dar. Das Ergebnis der Schweizer Volksabstimmung verpflichtet den Bundesrat nur, eine Neuverhandlung der Personenfreizügigkeit mit der EU anzustreben. Das Recht, Neuverhandlungen zur Personenfreizügigkeit zu verlangen, ist im Vertrag (Art. 14 und 18) ausdrücklich vorgesehen – für den Fall, dass sich die Einwanderung gegenüber allen Erwartungen bei Vertragsabschluss deutlich anders entwickeln würde.
Die faktische Verzehnfachung der Einwanderung seit Vertragsabschluss ist ohne jeden Zweifel eine solch «deutlich andere Entwicklung», die das Verlangen nach Neuaushandlung des Vertrags in jeder Beziehung rechtfertigt.
Der Auftrag
Drittens: Der Volksentscheid vom 9. Februar 2014 erteilt dem Bundesrat den formellen Auftrag, den Personenfreizügigkeits-Vertrag mit der EU in dem Sinn neu auszuhandeln, dass die Einwanderung in die Schweiz wieder von der Schweiz selbst gesteuert werden kann – mittels im Voraus festzulegender, auf die Wirtschaftsentwicklung abgestimmter Einwanderungs-Kontingente sowie unter Gewährleistung eines Vorrangs von Schweizerinnen und Schweizern am Arbeitsplatz.
Nichts an diesem Auftrag gefährdet irgend einen bilateralen Vertrag. Dass Verträge, wenn sich Gegebenheiten verändern, revidiert oder neu ausgehandelt werden, ist weltweit diplomatischer Alltag!
Das Paket I der Bilateralen
Viertens: Tendenziös und falsch ist auch Petra Gössis Unterstellung, das Verlangen nach Neuaushandlung der Personenfreizügigkeit würde «die Bilateralen insgesamt» gefährden. Die Vereinbarung über die Personenfreizügigkeit gehört zum Paket der sog. «Bilateralen I». Für die sieben Abkommen dieses Pakets I besteht tatsächlich eine sog. «Guillotine-Klausel»: Kündigt eine Seite einen der sieben Verträge dieses Pakets I, dann laufen die andern sechs Verträge nach kurzer Zeitspanne automatisch aus.
Das absolut vertragskonforme Begehren nach Neuverhandlung der Personenfreizügigkeit ist indessen in keiner Art und Weise eine Vertragskündigung oder gar ein Vertragsbruch. Das Recht, Neuverhandlungen zu verlangen, ist beiden Parteien ausdrücklich eingeräumt worden.
Aber selbst wenn dieser Personenfreizügigkeits-Vertrag gekündigt würde, könnten im Nachgang höchstens die sechs andern Verträge der Bilateralen I annulliert werden – nicht aber der Freihandelsvertrag von 1972. Und ebensowenig alle andern, gegen zweihundert zwischen der Schweiz und der EU inkraft stehenden bilateralen Vereinbarungen.
Vorteile für die EU
Fünftens: Die Verträge des Pakets I der Bilateralen begünstigen keineswegs einseitig die Schweiz. Sie bieten der EU insgesamt wohl deutlich mehr Vorteile als der Schweiz. Die EU wird diese Verträge folglich keineswegs leichtfertig aufs Spiel setzen.
Der für die EU wichtigste, sie enorm bevorteilende Vertrag ist der zum Paket I gehörende Vertrag über den Gütertransit durch die Schweiz. Dieser Vertrag sichert EU-Vierzigtönnern freie, von der Schweiz zusätzlich hoch subventionierte Fahrt durch unser Land. Der Vertrag gewährleistet die freie Passage über oder durch die Alpen.
Für die grossen, für die Volkswirtschaft ihrer Länder höchst bedeutenden Speditionsfirmen in den Niederlanden, in Belgien, im deutschen Rheinland, in der Lombardei und im übrigen Italien ist der Transitvertrag von existenzieller Bedeutung. Das räumen diese Gross-Spediteure offen ein. Würde ihnen die stark subventionierte Gotthardroute versperrt, hätten sie lange Umwege über den Brenner in Kauf zu nehmen, dann würden sie von den Billig-Transporteuren aus dem europäischen Osten (Bulgarien, Rumänien, Ungarn, Polen) innert kürzester Zeit aus dem Markt verdrängt. Das wissen die Regierungen der Sitz-Länder dieser volkswirtschaftlich bedeutsamen Gross-Spediteure ganz genau. Sie werden nie zulassen, dass dieser Transitvertrag leichtfertig durch Brüsseler Bürokraten – allenfalls auch bloss als Droh-Geste gegen die Schweiz – aufs Spiel gesetzt würde.
Zur Annullierung des Transitvertrags wäre in der EU übrigens Einstimmigkeit notwendig. Diese dürfte unter keinerlei Umständen je erreicht werden können.
Inländervorrang
Mit den Begriffen «Inländervorrang» und «Inländervorrang light» bauen die Verräter gegenüber dem Volksentscheid vom 9. Februar 2014 ein neues Lügenkonstrukt auf: Denn solange die Schweiz an den Personenfreizügigkeits-Vertrag in heutiger Form gebunden ist, ist ihr jegliche Bevorteilung eigener Staatbürger gegenüber EU-Ausländern schlicht und einfach verboten. Das ist der Grund, weshalb die Verräter des Volksentscheids von 2014 nie von «Schweizerinnen und Schweizern» sprechen – immer nur von «Inländern».
Der Inländervorrang auf der Basis der Personenfreizügigkeit stellt in Wahrheit jeden legalen EU-Einwohner den Schweizerinnen und Schweizern für bei Bewerbungen für offene Arbeitsstellen gleich. Den Inländervorrang kann also auch jeder in Athen, in Barcelona, in Tampere, in Malmö, in Leipzig, in Bordeaux, in Porto oder anderswo in der EU wohnhafte Stellenbewerber für sich beanspruchen. Inländervorrang auf der Grundlage der Personenfreizügigkeit ist nichts anderes als eine Einwanderungs-Beschleunigungsmaschinerie zu Lasten älterer Schweizer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.
Fazit
Offensichtlich fehlen den sich neuerdings mit SP und Gewerkschaften verbandelnden FDP-Strategen und ihrem Aushänge-Mädchen echte Argumente.
Das hier zerlegte Lügengebilde um die angeblich bedrohten Bilateralen stammt aus der Küche von Economiesuisse. Die an Philipp Müllers Fäden tanzende Puppe Petra Gössi – auf dem Papier eigentlich Präsidentin der FDP – glaubt sich offenbar mit diesen längst durchschauten, längst widerlegten Angstszenarien irgendwie profilieren zu können. Sie betrügt damit allerdings bloss die Stimmbürger; sie schadet der Schweiz und untergräbt die einst der freien Wirtschaft verpflichtete FDP in ihren Grundfesten.