Die Freiheit brachte auch Chaos vom Dnjestr bis ins Ferghanatal. Inzwischen sind die Eliten um Ordnung bemüht und stutzen die Freiheit zurecht.

Was wäre wenn? Das fragen Meinungsforscher die Russen regelmäßig zu Jahrestagen des Augustputsches 1991. Damals hatten reaktionäre Kräfte im sowjetischen Machtapparat Panzer in den Straßen von Moskau aufgefahren und Präsident Michail Gorbatschow abgesetzt; seinen Rücktritt mit angeblichen Gesundheitsproblemen notdürftig verschleiernd. Das Unterfangen scheiterte kläglich, als sich tausende Russen den Panzern entgegenstellten und die Soldaten, statt zu schießen, sich mit ihnen verbrüderten. Heute sprängen wohl wesentlich weniger als Verteidiger der Demokratie ein. Einer Umfrage des Lewada-Instituts nach würden nur 16 Prozent bei einem ähnlichen Putsch auf die Straße gehen. 44 Prozent gaben an, zu Hause zu bleiben, 41 Prozent wussten keine Antwort.

Sympathie hegen die Russen für die Putschisten deswegen nicht. Deren Sieg hätte einen Bürgerkrieg und noch mehr Instabilität herbeigeführt, meinen sie. Aber auch die Sieger von einst um den damals so populären Boris Jelzin stehen nicht mehr hoch im Kurs beim Volk. Die 90er-Jahre sind als Jahrzehnt der Demütigung, Armut und Schwäche im kollektiven Gedächtnis hängen geblieben.

Gefühl der Sicherheit

Der Zerfall der Sowjetunion bedeutete nicht nur schrumpfende Macht im Kreml. Die meisten Menschen in Russland assoziieren die Zeit und den schwachen Staat mit ausbleibenden Gehältern, hoher Inflation, sozialer Ungerechtigkeit und steigender Kriminalität. Die Machtkämpfe in den verschiedensten Winkeln des Riesenreichs führten zu blutigen Konflikten, sei es in Transnistrien, im Kaukasus oder in Zentralasien. Und so zeigen sich heute nur wenige Liberale nostalgisch in Bezug auf die ungenutzten Chancen der Freiheit und Demokratie, die das Volk damals erkämpft hatte.

Wladimir Putin ist beliebt, weil er den Russen das Gefühl der Sicherheit zurückgab. Dass steigende Ölpreise den Aufschwung ermöglichten, ist Nebensache: "Im Unterschied zur Elite denkt das Volk stets konkret", sagt Dmitri Trawin, Professor an der Europa-Uni in St. Petersburg. Putin stehe für wachsenden Lebensstandard und das Gefühl, wieder in der Weltpolitik mitzuspielen. Die Beschneidung demokratischer Institute und die Privatisierung der Macht hätten ihm die Wähler dafür verziehen, so Trawin.

Das heutige Russland ist nicht mit der Sowjetunion zu vergleichen – und doch gibt es Parallelen: Putins Ära der Stabilität ist zur Stagnation geworden. Die Wirtschaft lahmt, die Militärausgaben sind überproportional hoch, die Führungsriege im Kreml vergreist zusehends, und es gibt derzeit nicht einmal ansatzweise politische Alternativen zu Putin, der somit ganz in sowjetischer Tradition zum Kremlchef auf Lebenszeit verkommt.

Streit um den Kurs

Reformen sind dringend nötig. Derzeit streiten gleich drei Konzepte um den Segen Putins. Vordergründig geht es um rein wirtschaftliche Modelle, doch die Wahl zwischen einer steigenden Präsenz des Staats in der Ökonomie und institutionellen Reformen zur Senkung bürokratischer Einflussmöglichkeiten wird am Ende des Tages auch die weitere ideologische Grundausrichtung der russischen Führung verraten.

Ob der jetzt begonnene Umbau an den Schaltstellen der Macht, wo zuletzt selbst enge Putin-Vertraute wie Zollchef Andrej Beljaninow und der Leiter der Präsidialverwaltung, Sergej Iwanow, ihren Abschied nehmen mussten, eine politische Kursänderung bedeuten oder nur dazu dienen, die persönliche Abhängigkeit und Loyalität von Amtsträgern gegenüber Putin zu stärken, bleibt abzuwarten. Die Entscheidungen offenbaren bisher nur, dass die Schärfe der Krise auch im Kreml erkannt wurde.

Und doch ist die Bilanz, die Russland ein Vierteljahrhundert nach dem Augustputsch ziehen kann, noch ein verhältnismäßiger Erfolg im Vergleich zu anderen GUS-Republiken: Die zentralasiatischen Staaten Kasachstan, Usbekistan, Turkmenistan und Tadschikistan haben sich de facto in Feudalsysteme zurückentwickelt, während in Kirgistan politische Umbrüche fast regelmäßig in gewaltsame Umstürze ausarten. Von den genannten haben einzig die Kasachen dank ihres Ölreichtums immerhin wirtschaftlich von der neuen Unabhängigkeit profitiert.

Auch im Kaukasus ist es um die Demokratie schlecht bestellt – von Georgien einmal abgesehen, das sich allerdings mit anderen Problemen wie Separatismus und schwacher Wirtschaft herumschlagen muss. In Aserbaidschan hingegen hat der einstige KP-Chef die Macht an seinen Sohn vererbt, die Präsidentenwahlen in Armenien waren zuletzt überschattet von Betrugsvorwürfen.

Kaum Vorzeigemodelle

Das Demokratiedefizit in Weißrussland wird zwar in Brüssel, wohl wegen der Auseinandersetzung mit Moskau, weniger laut angemahnt als noch vor Jahren. Gebessert hat sich die Lage deswegen dort noch lange nicht. Und auch die nach Westen strebenden Staaten Ukraine und Moldau taugen nur wenig als erfolgreiches Vorzeigeobjekt. Die Korruption unter den angeblich europafreundlichen Regierungen in Kiew und Chi?inau ist keineswegs weniger geworden.

Dass der Kleptomane Wiktor Janukowitsch durch den Oligarchen Petro Poroschenko ersetzt wurde, kann, vor allem angesichts der Begleitumstände, wohl kaum als großer Erfolg von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit gefeiert werden. Von Stabilität und Wohlstand ist das Land womöglich weiter entfernt als im August 1991. (André Ballin aus Moskau, 23.8.2016).


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