In der Einleitung wurde gesagt, dass früher Brutalität ein Kennzeichen der Verbrecherwelt war und es heute zu einem Merkmal der öffentlichen Politik geworden ist. Die Brutalität hat dabei einen neuen Namen bekommen und heißt „Zero Tolerance“. Früher gab es in der deutschen Justiz einmal den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit der Mittel, aber der ist inzwischen durch Zero Tolerance ersetzt worden. Alle Bürger werden heute grundsätzlich als mögliche Terroristen angesehen und wie potentielle Schwerstverbrecher behandelt. Und zunehmend sind sogar Kinder und Jugendliche davon genauso betroffen wie Erwachsene.
Zero Tolerance klingt so als wenn „zero percent“ der begangenen Straftaten unverfolgt blieben, was ja irgendwie gerecht wäre. Es geschieht aber etwas anderes. Schon bei Geschwindigkeitskontrollen greift man ja beliebig Einzelne heraus und lässt die Masse davonkommen. Zero Percent Tolerance bedeutet vielmehr, dass man eben auch schon mal jemanden der 100%-igen Strafverfolgung aussetzt, wenn er nur um 1% vom Gesetzestext abweicht. Zero Tolerance bedeutet, dass jemand, der in einer 30 km/h-Zone 37 km/h fährt, vor Gericht kommen und man ihm dafür seinen Führerschein entziehen kann. So möchte man alle Menschen durch Abschreckung erziehen, indem man Einzelne besonders brutal behandelt. Neu erfunden wurde das Prinzip Zero Tolerance vom New Yorker Bürgermeister Bloomberg, der damit sehr gute Resultate bei der Verbrechensbekämpfung erzielt haben will. Doch das Prinzip ist nicht neu, es greift eine alte Verfahrensweise aus dem 18. Jahrhundert wieder auf, als man Verbrecher auf öffentlichen Plätzen zum Anschauen für alle brutal hinrichten ließ, indem man ihnen alle Knochen gebrochen hat.
Dies alles spielt sich in Zeiten ab, in denen die Anzahl der Gewaltverbrechen eigentlich signifikant zurückgegangen ist. Soziologen wie Wacquant und Beister weisen nun darauf hin, dass mehr und höhere Strafen erwiesenermaßen keine Auswirkungen auf die Kriminalitätsraten haben. Sie beobachten vielmehr, dass die neue Brutalität insbesondere Menschen in prekären Lebensverhältnissen kriminalisiert und sie befürchten, dass unverhältnismäßige und ungerechte Behandlung die staatliche Ordnung letztlich untergräbt und eher Verbrechen provoziert als sie zu bekämpfen.[1]
Abb. 11: Vermummt sind heute nicht die Demonstranten oder Täter, sondern die
Polizisten. Sie tragen kein Namensschild, denn sie sollen nicht identifizierbar
sein. Bild aus der tz.
Aktuelle Fälle zeigen diese neue Dimension der Verhältnislosigkeit. So der Fall der Familie von Erich und Monika S. in Gammelsdorf. Wo früher ein Wachmann freundlich anklopfte, tritt heute ein schwer bewaffnetes Überfallkommando brutal die Türen ein. Im März 2004 stürmte ein Sondereinsatzkommando aus 30 Polizisten morgens um 6 Uhr ihr Haus, brach scheppernd die Tür auf, hielt den Eltern geladene Maschinenpistolen vors Gesicht, holte die 10 und 15 Jahre alten Kinder aus dem Bett und stürmte Opas Zimmer im Obergeschoss. Man legte die ganze protestierende Familie in Fesseln. Es dauerte 20 Minuten, bis dem Kommando klar wurde, dass diese Familie nicht die gesuchte, gemeingefährliche Rockergruppe war. Zerknirscht zog man wieder ab. Zurück blieben eine beschädigte Tür und eine auf Dauer geschockte Familie, eine 10-Jährige, die nicht mehr zur Schule wollte und ein Opa, der von zwei Ärzten behandelt werden musste.[2]
Und dies ist beileibe kein Einzelfall. Weil jemand behauptete, der Fliesenleger Josef Hoss besitze in seinem Haus im Rheinland eine Handgranate, fiel am 8.12.2000 ein 16 Mann starkes Sondereinsatzkommando über ihn her, als er noch in seinem Fahrzeug vor seinem Haus saß und gerade aussteigen wollte. Die Polizisten schlugen die Scheiben des Autos ein, zerrten den Mann aus dem Fahrzeug, warfen ihn auf die Strasse und verprügelten ihn derart, dass er das Bewusstsein verlor und seitdem berufsunfähig ist. Eine Handgranate fand man bei ihm nicht und auch nicht in seinem Haus. Seitdem ist Hoss schwerbehindert und leidet unter Depressionen. Berufsunfähig und verarmt, musste er sein Haus verkaufen. Die Existenz des Mannes und seiner Familie ist ruiniert, aber bislang hat noch keine offizielle Stelle dafür die Verantwortung übernommen, noch hat sich jemand bei ihm entschuldigt, und es wurde auch keine Entschädigung gezahlt. Das Motto des SEK-Sonderkommandoführers verdeutlicht aber schön die offizielle Einstellung zu dieser neuen Brutalität. Der sagte „Es gibt keine falschen Maßnahmen, es gibt nur falsche Begründungen!“[3]
In Waco in Texas setzten die USA schon 1993 ein wirklich dauerhaftes Fanal staatlicher Unverhältnismäßigkeit. Die US-Regierung zeigte hier, dass sie auch ein ganzes Dorf niedermachen kann, wenn ihr die Gesinnung der Bewohner nicht gefällt und ein Verdächtiger dabei ist. Eine Sekte von 80 Davidianern, die in einer Art Fort lebten, wollte sich der Polizei nicht stellen, weil sie die Anschuldigungen gegen ihren Anführer für haltlos hielten. Zudem hatte der zuständige Richter auch keinen Durchsuchungsbefehl erlassen. Die Davidianer schlossen die Tore ihres Forts und ließen keinen rein. Darauf wurde ihr ganzes Anwesen vom FBI belagert wie eine Stadt im Mittelalter. Das FBI lieh sich schließlich ein spezielles Belagerungsgerät vom Militär, einen Panzer mit einer Spezialkanone zum Einrammen von Türen. Mit dem rammte man das große Eingangstor des Forts auf und schoss dann Granaten mit Betäubungsgas hinein. Schnell waren alle Bewohner betäubt und außer Gefecht gesetzt. Dumm genug war dem FBI wohl nicht klar, dass das Gas auch brennbar war. Das Gas entzündete sich an einer Feuerstelle im Fort und der ganze aus Holzbauten bestehende Ort brannte schnell lichterloh. In einem Feuersturm mit mächtigen, schwarzen Rauchwolken brannte alles nieder. Die vom Gas betäubten Personen im Fort hatten keine Chance und verbrannten zu Fleischklumpen, 80 völlig Unschuldige, Frauen und Kinder eingeschlossen.[4]
Der Anschlag vom 11. September hat in den USA paranoide Bedrohungsgefühle salonfähig gemacht. Bei der Einreise in die USA wurde im Oktober 2001 eine 33-jährige Deutsche zu 2 Jahren Gefängnis auf Bewährung verurteilt und dann ausgewiesen, nur weil sie witzelte, „die Bombe sei in einem anderen Koffer.“[5] Der Amerikaner Rigoberto Alcazar wurde in Miami in einem Flugzeug erschossen, als er aus Flugangst das Flugzeug vor dem Abflug wieder verlassen wollte und sich so verdächtig machte. Die Skymarshalls an Bord meinten, er müsse wohl eine Bombe haben und erlegten ihn mit 5 Schüssen. Dass seine Frau hinter dem 44-jährigen herlief, kümmerte die Skymarshalls dabei wenig.[6]
Vermeintlicher Bomben- oder unberechtigter Waffenbesitz kann in den USA leicht zu einer prophylaktischen Erschießung führen. In den USA wurde die ganze Familie eines Mannes, der unberechtigt eine Waffe besaß und diese nicht herausgeben wollte, bei der Abnahmeprozedur erschossen. Der 14-jährige Sohn wurde mit einem Schuss in den Rücken niedergestreckt und die Frau mit einem Kopfschuss, während sie ein 10 Monate altes Baby auf dem Arm hielt.
Sollte jemand die Festnahme überleben, haben die Strafen in den USA es in sich. In Arizona wurde ein Mann wegen des Besitzes von 20 pornografischen Bildern zu 200 Jahren Gefängnis verurteilt.[7] Einem Doktoranden in Philadelphia drohten 2008 bis zu 10 Jahre Haft, weil er auf einen Computerlink geklickt hatte, unter dem eine vermeintliche Kinderpornoseite sein sollte, die jedoch eine Falle des FBI war.[8] Man bemerke im Nebenbei, dass nicht nur Brutalität sondern auch hinterhältige Fallen ein Charakteristikum des US-Staatswesens sind.
In Sapulpa in Oklahoma wurde im Sommer 2003 der Amerikaner John Marquez zu lebenslanger Haft verurteilt, weil er einen Polizisten angespuckt hatte.[9] In Kalifornien wurde ein Mann als Wiederholungstäter zu 50 Jahren Haft verurteilt, weil er zum dritten Mal Videos für seine Kinder gestohlen hatte (Cinderella und Free Willy). Der oberste kalifornische Gerichtshof bestätigte das Urteil und der Gouverneur von Kalifornien (vor Arnold Schwarzenegger) begrüßte den Abschreckungscharakter. Insgesamt kann man dieses Schema wirklich nur als „Zero Tolerance“ bezeichnen.[10] Ja, mit Toleranz hat das Rechtsgebaren der USA überhaupt nichts mehr zu tun, Toleranz scheint für das amerikanische Rechtssystem eher ein Fremdwort zu sein.
Im März 2003 wurde in Oregon ein Amerikaner arabischer Abstammung in einem Hochsicherheitstrakt eingesperrt, weil er drei Jahre zuvor eine Spende an eine Organisation gemacht hatte, die das FBI heute rückwirkend als „terroristisch“ betrachtet. Der Mann ist berufstätig und hat Frau und Kinder.[11] In Philadelphia wurde im April 2000 der Kanadier James Sabzali angeklagt, weil er das von den USA gegen Kuba verhängte Handelsverbot missachtet hatte. Er hatte Trinkwasser-Reinigungsgeräte von Kanada aus an kubanische Krankenhäuser verkauft. Ihn erwarten nun bis zu 205 Jahre Gefängnis und eine Geldstrafe von bis zu 5 Mio $.[12] Um ein amerikanisches Handelsembargo zu brechen braucht man aber mit gar nichts zu Handel zu treiben. Gemeinsamer Sport und Spiele genügen. Weil der Schachweltmeister Bobby Fischer 1992 während des US-Embargos gegen Jugoslawien in Belgrad gegen seinen russischen Rivalen Boris Spassky antrat, setzte ihn die US-Regierung auf die Fahndungsliste. Fischer kehrte seitdem nicht mehr in die USA zurück, wurde aber 2005 von Japan wie ein Schwerverbrecher „ausgeliefert“.[13]
Deutschland hat das amerikanische Beispiel des Einsatzes schwer bewaffneter Hundertschaften gegen unbewaffnete Personen übernommen und erklärt heute auch Personen zu Terroristen, die sich lediglich nicht der politisch verordneten korrekten Meinung anschließen oder deren Ruf man schädigen will. So wurde in Deutschland die Hochzeitsfeier eines jungen Mannes, der den Behörden als Rechtsradikaler galt, mit einer Hundertschaft Polizisten gesprengt. Den bekannten Fußballtrainer Daum erwischte es wegen des Verdachts auf Drogenkonsum. Im Oktober 2000 wurde erst sein Telefon abgehört und dann wurden Haus, Büro und Garten von Dutzenden von Beamten mit großem Aufwand durchsucht. Vor Gericht waren dann V-Männer die Hauptzeugen der Staatsanwaltschaft, und zwar genau die, die Daum vorher die Drogen zum Kauf angeboten hatten. Daum willigte in eine Haarprobe ein und dachte wohl, er hätte nichts zu befürchten. Doch gefehlt, das Ergebnis war positiv. Im Prozess stellte sich dann zwar heraus, dass die Probe wohl im Labor vertauscht worden war, doch da war sein Ruf bereits ruiniert. Hinterhältiges Fallenstellen ist auch in Deutschland ein Charakteristikum des Staates geworden und mehrere Quellen berichten, dass gerade Verfassungsschutzagenten am Drogenverkauf in Deutschland mitwirken.[14]
Heute sehen sich die USA als kämpferische Nation, und da passt ein brutales Vorgehen wohl einfach einfach besser zum Lebensstil. Nach einem Vortrag des Philosophie-Professors Georg Meggle versteht sich ein Großteil der Amerikaner als eine Nation mit der Mission, den amerikanischen Lebensstil zu verteidigen[15] und für den „american way of life“ in der Welt zu kämpfen. Man will andere nicht unbedingt freundlich von einer besseren Lebensart überzeugen, nein, man will die eigene Auffassung nötigenfalls mit dem Knüppel durchsetzen. Dass man mit dieser Brutalität nun gerade erst die „Terroristen“ erzeugt, die man bekämpfen will, das entgeht dabei allerdings der Aufmerksamkeit.
Auch in Israel praktiziert die Regierung Zero Tolerance. Dort schoss man 2003 mit Apache-Kampfhubschraubern Raketen in ein dicht besiedeltes Wohngebiet, um einen vermutlichen Terroristenanführer auszulöschen, der gefährlich werden könnte. Man nahm dabei in Kauf, dass 35 unschuldige Zivilisten, darunter 15 Kinder, mit getötet wurden. 2003 haben wegen solcher Einsätze etliche israelische Fliegeroffiziere ihren Dienst gekündigt. Richtige Feinde zu bekämpfen seien sie durchaus bereit, aber unschuldige Zivilisten niederzumachen, an solchen Verbrechen wollten sie nicht beteiligt sein.
Kann man solche „kollateralen Schäden“ akzeptieren? Kann man Verständnis dafür haben, dass die Häuser und der Besitz unschuldiger Menschen in Vergeltungsmaßnahmen vernichtet werden, dass palästinensische Felder mit 6.000 Orangenbäumen niedergemacht werden, die aufzuziehen es 15 Jahre brauchte?[16] Die USA haben in ihren Kriegen die Massenvernichtung von tausenden Zivilisten in Kauf genommen und die amerikanische Außenministerin Allbright erklärte 2001 öffentlich, dass der Tod einer halben Million irakischer Kinder gerechtfertigt sei, um die irakische Regierung zur Kooperation zu bewegen.[17] Kann man der US-Regierung da noch trauen, wenn sie sagt, sie wolle irgendwo eine Bevölkerung befreien?
Abb. 12: Die amerikanische Friedensaktivistin Rachel Corrie
(1979 - 2003)
Im II. Weltkrieg haben Angehörige der deutschen Wehrmacht, nachdem ihre Anführer von Partisanen aus dem Hinterhalt erschossen wurden, die Dörfer der mutmaßlichen Täter zerstört und im Sinne einer Vergeltungsmaßnahme Unschuldige erschossen. Für solch einen Vorfall in Italien wurde noch 1996 ein damals beteiligter deutscher Offizier im Alter von achtzig Jahren zu lebenslanger Haft verurteilt. Israelische Organisationen haben ihn über Jahrzehnte gejagt und verfolgt. Doch in Israel selbst lässt man die Vergeltungsmaßnahmen gegen die Palästinenser heute passieren. Ja, man geht gegen die vor, die sich den Racheakten mutig entgegen stellen. Die amerikanische Friedensaktivistin Rachel Corrie (siehe Abb. 12), die das Haus eines palästinensischen Arztes im Gaza Streifen vor dem Abriss schützen wollte und sich mutig mit einem Megaphon vor einen Bulldozer stellte, wurde im März 2003 von diesem einfach überrollt. Dabei war sie mit ihrer signalfarbenen roten Jacke sicherlich nicht zu übersehen. Nachdem der israelische Bulldozer das Mädchen einmal im Vorwärtsgang überfahren hatte, fuhr er im Rückwärtsgang noch einmal über sie rüber. Die amerikanischen Medien berichteten kaum darüber, von offizieller Seite gab es keine Proteste. Vorbei also die Zeit, als ein chinesischer Student auf dem roten Platz in Peking sich vor einen Panzer stellte und ihn stoppen konnte. Rachel Corrie ist regelrecht ein Symbol für Zero Tolerance und die Brutalität der westlichen Demokratien.
Auf einem Video eines französischen Journalisten war vor einiger Zeit zu sehen, wie unbewaffnete, wehrlose Palästinenser vor israelischen Scharfschützen Deckung an Hauswänden suchten, wie sie sich verkrochen und klein machten, die Arme über den Kopf nahmen, wie sich der 12-jährige Mohammed Al-Durra an einer Hauswand hinter einer alten Öltonne voller Angst an seinen Vater kauerte, der ihn an sich drückte und ihm mit seinem Körper Schutz zu geben versuchte, und wie dann doch Scharfschützen gezielt feuerten und den Jungen in den Armen seines Vaters trafen. Man konnte sehen, wie der Junge getroffen zusammensackte, seine Bewegungen spärlicher wurden und er sein Leben in den Armen seines weinenden Vaters aushauchte.
Solche unverhältnismäßigen, brutalen Angriffe eines Staates schrecken die Bürger nicht ab, sondern sie bringen sie auf, so dass sie sich gegen den Staat organisieren, sich bewaffnen und bereit sind, ihn nötigenfalls ebenso brutal zu bekämpfen. Dies ist eine psychodynamisch verständliche Reaktion, die man so immer wieder beobachten kann. Wenn jemand seine Familie verloren hat und alles was ihm lieb und teuer war, wenn das eigene Schicksal hoffnungslos besiegelt ist, dann findet er sich schließlich zu jedem Kampf bereit.
Schon Kinder reagieren so. Ein erst 8-jähriger Schüler in Arizona führte eine Strichliste darüber, wie oft seine Eltern ihn verprügelt hatten. Beim tausendsten Mal sollte Schluss damit sein. Im Dezember 2008 erhielt er von seinem Vater wieder eine Tracht Prügel und damit war es so weit. Am nächsten Tag nahm sich der Junge das Jagdgewehr seines Vaters, und als sein Vater zusammen mit einem Kollegen von der Arbeit kam, erschoss er die beiden mit jeweils zwei Schuss.[18]
Zero Tolerance und Unverhältnismäßigkeit werden heute noch durch das Charakteristikum der einseitigen Übermacht ergänzt, welches ebenfalls der Abschreckung dienen soll. Den heldenhaften Kampf Mann gegen Mann gibt es so nur noch im Wildwest-Film, in der Realität übernimmt hingegen eine „Shock-and-Awe“–Übermacht das Töten von technisch und/order stärkemäßig weit unterlegenen Gegnern. Der französische Geschichtswissenschaftler Emanuel Todd bezeichnet das in seinem lesenswerten Nachruf auf die Weltmacht USA als „theatralischen Mikromilitarismus“ mit dem die USA die Illusion eines instabilen und gefährdeten Planeten aufrecht erhalten würde, auf dem sie Ordnung schaffen müssten.[19]
In diesem Sinne stellte ein amerikanischer Veteran schon zum I. Irakkrieg fest: [20]
"In the last Gulf War, as troops, we were ordered to murder from a safe distance. We destroyed much of Iraq from the air, killinghundreds of thousands, including civilians. We remember the road toBasra -- the Highway of Death -- where we were ordered to killfleeing Iraqis. We bulldozed trenches, burying people alive. ...“
Doch man schätzt die Menschen falsch ein, wenn man glaubt, eine brutale Übermacht, ein zahlenmäßig weit überlegener Gegner würde zwangsläufig zu einer Abschreckung des Gegners führen und ihn aus Angst in die Flucht treiben. Das ist nicht zwangsläufig der Fall. Die Geschichte ist voll mit Gegenbeweisen.
Als im Juni 1944 Hitlerdeutschland im Osten mit rund ½ Mio Soldaten gegen 2 Mio Soldaten der Sowjetunion kämpfte, nutzten die USA diese Belastung im Osten aus, um am D-Day auf der Westseite in den Kampf gegen das deutsche Reich einzutreten. An der Westfront stand dabei für den Luftkampf eine alliierte Übermacht von 11.590 Flugzeugen genau zwei deutschen Flugzeugen gegenüber, geflogen von Oberstleutnant Josef Prille und Feldwebel Heinz Wodarczyk.[21] Dieses Kräfteverhältnis änderte sich auch im restlichen Krieg nicht mehr entscheidend. Am 30.3.1945 flogen 1.400 US-Bomber und 600 Begleitjäger von England auf Norddeutschland zu, um Hamburg zu bombardieren, und von Kaltenkirchen in Norddeutschland starteten lediglich 20 Jagdflieger und nahmen den Kampf auf.[22] Die gewaltige Übermacht von 1:100 hat diese Flieger nicht davon abgehalten, ihr Land zu verteidigen, so gut sie eben konnten, auch wenn 14 dabei ihr Leben verloren. Ja die hohe Zahl an Luftsiegen deutscher Flieger im zweiten Weltkrieg ist vermutlich ganz wesentlich mit darauf zurückzuführen, dass sie es mit einem zahlenmäßig weit überlegenen Gegner zu tun hatten. So schossen die in dieser Hinsicht erfolgreichsten vier deutschen Fliegerasse allein über tausend feindliche Flugzeuge ab.
Mit Abschreckung möchte man aber heute auch schon bei ganz jungen Menschen Wirkungen erzielen. So wurde in Bayern z.B. ein gerade mal 6-jähriger Bub, den man beim Stehlen von einem Überraschungs-Schokoladenei erwischt hatte, der vollen Breitseite von Polizei, Staatsanwaltschaft und Jugendamt ausgesetzt.[23]
Anhand der Einstellung zur Kriminalität von Kindern und Jugendlichen lässt sich beobachten, dass Deutschland und Europa sich auch bei der Verbrechensbekämpfung zunehmend am amerikanischen Vorbild orientieren. Bezüglich der Einstellung zu Kindern zeichnen sich derweilen zwischen Europa und den USA aber Unterschiede ab, bei denen fraglich erscheint, ob Europa da mehr übernehmen sollte. Wenn jemand seine Kinder am Strand nackt herumlaufen lässt, kann das in den USA schon dazu führen, dass die Polizei die Freizügigen samt der Eltern einsperrt. Und Kinder sind in den USA auch nicht von polizeilichen Heimsuchungen ausgenommen. In Florida wurde die 9-jährige Stephanie Jefferson Ostern 2004 allein in Handschellen zum Polizeiverhör abtransportiert, weil sie bei den Nachbarn unerlaubt ein Kaninchen mitgenommen hatte.[24] In Washington wurde eine 12-jährige, die verbotenerweise in der U-Bahn Pommes gegessen hatte, in Handschellen abgeführt und stundenlang auf einer Wache festgehalten. Der 11-jährige Raoul Wüthrich aus Golden in Colorado wurde am 30.8.1999 abends um 22.30h von einem schwer bewaffneten Überfallkommando in Handschallen und im Schlafanzug aus seinem Zuhause geholt und in ein Gefängnis gesteckt, weil die Nachbarn ihn angezeigt hatten, denn er hätte seiner Schwester beim Pipimachen zugesehen. Mehrfach wurde er dem Haftrichter in Hand- und Fußfesseln vorgeführt, und nach jedem Besuch seines Anwalts musste er sich nackt ausziehen und alle seine Körperöffnungen wurden nach versteckten Gegenständen inspiziert.[25]
Ein anderer Schüler in den USA, erst 8 Jahre alt, bekam, weil er ein 7-jähriges Mädchen angeblich unsittlich berührt hatte, 2 Jahre auf Bewährung.[26] Er wurde zu einer Zwangstherapie verurteilt. Bei dieser Aversionstherapie wird ein Erektionsmessgerät am Penis befestigt und es werden dann erotisch anregende Bilder gezeigt. Bei der leisesten Erregung wird dann jeweils ein Elektroschock appliziert. Mindestens 50.000 Jugendliche werden in amerikanischen Anstalten jedes Jahr mit dieser Aversionstherapie behandelt.
Die amerikanische Reaktion auf kindliche Neugier muss man auch in Relation zu dem merkwürdigen Gegensatz sehen, dass gerade die USA das Land sind, aus dem die Zeitschriften Hustler und Playboy kommen, das Land mit der größten Pornoindustrie der Welt. Zusammengenommen muss man das schon als immense Verlogenheit ansehen.
Aber die deutsche Bundesregierung arbeitete Ende 2007 eifrig daran, eine Kopie des amerikanischen Sexualstrafrechts auch in Deutschland einzuführen. Nach dem noch geltenden Recht ist Strafbarkeit gegeben, wenn ein Sexualtäter über 18 Jahre alt ist und sein Opfer unter 16. Die Bundesregierung möchte nun das Täteralter von 18 auf 14 absenken und das Opferalter von 16 auf 18 erhöhen. Zudem soll bereits der Versuch, Sex zu haben, strafbar sein. Wenn also eine 16-jährige einen 18-jährigen zu sich auf einen Kaffee einlädt, könnte das in der Zukunft zu bis zu 10 Jahren Gefängnis führen.
Die amerikanische Intoleranz bezieht sich aber nicht nur auf Sex, es ist eine andere Einstellung den Kindern gegenüber. In den USA werden Kinder schon früh wie Erwachsene behandelt, schon 16-jährige werden zum Militär einberufen und in diesem Alter können sie auch schon als Mörder zum Tode verurteilt werden. In Vietnam versuchte die US Army, auch 14-Jährige zu rekrutieren.
In 21 US-Bundesstaaten wird an den Schulen noch die Prügelstrafe eingesetzt. 2006/2007 sollen in den USA rund 200.000 Kinder von Lehrern geschlagen worden sein.[27] 2003 stürmte ein bewaffnetes Überfallkommando eine Schule in South Carolina. Die Polizisten zwangen die Schüler mit vorgehaltener Pistole, sich mit dem Gesicht nach unten auf den Boden zu legen. Einige bekamen Handschellen angelegt. Polizeihunde schnüffelten alles nach Drogen ab. Sie fanden nichts und alle mussten ohne Fahndungserfolg wieder abziehen. Hinterher darauf angesprochen, ob das nicht eine etwas übertriebene Kontrollmaßnahme gewesen sei, antwortete der Schulleiter, er finde, dass es für die Schüler eine wertvolle Erfahrung gewesen sei.[28] Wow!
Den Kindern in der Staatsfürsorge erscheint es in den USA noch übler zu ergehen. Ein Bericht der BBC Ende 2004 deckte auf, dass an HIV-infizierten Kindern unter der New Yorker Wohlfahrtsbehörde systematisch auch hochgiftige Medikamente erprobt wurden. Manche der Kinder waren gerade drei Jahre alt. Und auch wenn die Medikamente bei den Kindern zu Schwindelgefühlen, Übelkeit, Erbrechen und Schmerzen führten, wurden die Medikamente nicht abgesetzt, sondern es wurde dem Testplan folgend weiter gemacht. Und wenn die Kinder selbst sich weigerten die Pillen zu schlucken, bekamen sie die Medikamente intravenös.[29]
Das BBC hätte aber auch aus England über die besondere Verwendung von Kindern zu elterlichen Zwecken berichten können, von Clubs, im Vergleich zu denen die Hitlerjugend nur ein harmloser Wanderverein war. In Wigan bei Manchester beispielsweise gibt es einen von etwa 500 Baby Fight Clubs in England, in denen zum Plaisir von zahlenden Zuschauern öffentliche Freistil-Boxkämpfe von fünf-(sic) bis neun-jährigen Kindern veranstaltet werden. Die Eltern unterschreiben vor dem Kampf eine Erklärung, in der sie versichern zu verstehen, dass ihr Kind bei Kickboxen verletzt oder getötet werden kann. Die Kinder weinen oft beim Kämpfen, aber die Eltern sind stolz auf ihre „Pitbull-Terrier.“[30]
Eine Reihe von Indikatoren, wie z.B. die Inhaftierungsraten, belegen, dass schwarze Jugendliche in den USA noch nicht die volle Gleichberechtigung genießen. Bevorzugt werden von der Polizei in den USA auch heute immer noch Schwarze durchgeprügelt. Als im Dezember 2003 der Schwarze Nathaniel Jones bewusstlos auf dem Rasen vor einem Schnellrestaurant lag, rief jemand den Rettungsdienst, und auch die Polizei kam gleich hinzu. Nachdem der Rettungsdienst sich um den Mann gekümmert hatte, kam dieser wieder zu Bewusstsein. Die Polizei wollte ihn nun festnehmen, er wollte aber nicht festgenommen werden. Es kam zu einem Gerangel und schließlich schlugen die Polizisten minutenlang mit ihren Holzknüppeln auf ihn ein, bis der Schwarze wieder bewusstlos auf dem Rasen lag. Allerdings wachte Nathaniel Jones dieses Mal nicht mehr auf. Die Polizisten hatten ihn totgeschlagen.[31]
Diese brutalen Übergriffe von Seiten der Polizei auf Jugendliche und Studenten sind heute der wahrscheinlichste Auslöser für eine flächendeckende und länderübergreifende Revolution. 1999 widersetzte sich der 19-jährige Schwarze Timothy Thomas in Cincinnati seiner Verhaftung und wurde dabei von der Polizei erschossen. Der weiße Polizist, der geschossen hatte, wurde freigesprochen. Das führte zu schweren Rassenunruhen, bei denen es über hundert Verletzte gab und 800 Personen festgenommen wurden. Ganz ähnliche Fälle gab es in Frankreich 2007 und in Griechenland 2008, wo Jugendliche mit einem Sturm der Gewalt auf die Tötung eines Unschuldigen reagieren. Und 2008 gab es bereits Solidaritätsdemos in England, Deutschland, Spanien, Frankreich und Dänemark.
[1] Loic Wacquant: Bestrafen der Armen: Zur neoliberalen Regierung der sozialen Unsicherheit, Budrich Verlag, 2009.
[2] Tageszeitung tz, 9.3.2004, S.9.
[3] Isabel Schayani und Ralph Hötte: Der Fall Hoss, der lange Leidensweg eines Polizeiopfers. Monitor Nr. 542, 19.01.2006.
[4] http://www.pbs.org/wgbh/pages/frontline/waco/
[5] dpa in Yahoo unter Skurilles und Witziges, 25.10.2001 - Da biegen sich die World Trade Center so, dass ein Flugzeug hindurchfliegen kann. Ich kann da nichts Witziges erkennen.
[6] Siobhan Morrisse: Eyewitness:“I never heard the word ‚Bomb’“, Time online, Dezember 2005.
[7] http://www.rense.com/general35/200yrs.htm
[8] FBI postet Links zu vermeintlichen Konderporno-Seiten in Foren, DerStandard.at, 21.3.2008.
[9] Yahoo Nachrichten Deutschland, Donnerstag 3. Juli 2003, 14:03 UhrPolizist angespuckt - zu lebenslanger Haft verurteilt.
[10] Zum Vergleich: Der Attentäter des belgischen Politikers Pim Fortyne wurde nur zu 18 Jahren Gefängnis verurteilt. BBC-News, 5.7.2003.
[11] The Oregonian, 25.03.2003.
[12]http://www.gooff.com, 19.4.2003.
[13] Ex-Schachweltmeister Fischer festgenommen. www.spiegel.de, 16.7.2004.
[14] Bommi Baumann: Rausch und Terror, ein politischer Erlebnisbericht. Rotbuch, 2008.
[15] Georg Meggle: Gedanken zum Irak-Krieg. Vortrag an der Albertina, Universitätsbibliothek Leipzig, 11.03.2003.
[16] Crushed: the farmers caught between the Israeli army and the Hamas, news.independent.co.uk, 21.5.03.
[17] Larry Mosqueda: Shocked and Horrified, The Evergreen State College, USA, September 15, 2001.
[18] Felicia Fonseca: Erst acht Jahre alt und schon ein Doppelmörder? www.welt.de, 17.12.2008.
[19] Emanuel Todd: Weltmacht USA. Ein Nachruf. Piper, München, 2004.
[20] http://onliner.pointclark.net/public\materialien\veterans.htm
[21]www.wikipedia.de, „Operation Overloard”, 20.10.2008.
[22]www.spurensuche.de, Absturz der Bf 262 bei Kaltenkirchen.
[23] Ö3-Nachricht im Oktober 2000.
[24] CBSNews.com, 11.4.2004.
[25] Erik Möller: Gefährliche Doktorspiele, telepolis, 4.3.2000.
[26] Hubert Erb: Es geht noch (p)rüder, telepolis, 10.12.2003.
[27] www.krone.at, 21.8.2008.
[28] Mark Sage: Armed Police Storm School in Drugs Raid, new.scotsman.com, 7.11.2003.
[29] Jamie Doran: Newy York’s HIV experiment. BBC News online, 30.11.2004.
[30] Björn Staschen: Immer auf die Schnauze – Baby Fight Club. SWR, 20.07.2008.
[31] Furcht vor neuen Rassenunruhen in den USA, die Welt online, 3.12.2003.
Zitat des Tages