Das wohl wichtigste Beweisstück, das zur Verurteilung eines libyschen Geheimdienstlers führte, war wahrscheinlich gefälscht.


270 Tote: Lockerbie, 21. Dezember 1988

Der Libyer Abdelbaset al-Megrahi, als Lockerbie-Attentäter zu lebenslanger Haft verurteilt, starb im Mai. Ob er aber tatsächlich 270 Menschenleben auf dem Gewissen hat, ist bis heute nicht restlos geklärt. Im Gegenteil: Es gibt begründete Zweifel, ob er die Bombe in den Pan-Am-Jumbo schmuggelte und ihn damit am 21. Dezember 1988 über der schottischen Kleinstadt Lockerbie zum Absturz brachte. Beobachter-Recherchen und Erkenntnisse aus neu aufgetauchten Akten zeigen, dass die offizielle Tätertheorie grundsätzlich hinterfragt werden muss.

Eine zentrale Rolle im Lockerbie-Fall spielte der Zürcher Elektronikhändler Edwin Bollier. Allein auf der Tatsache, dass er Mitte der achtziger Jahre Schaltuhren gebaut und nach Libyen geliefert hatte, beruht bis heute der gesamte offizielle Tat­hergang: Al-Megrahi soll eine Bombe mit einem solchen Timer in einem Koffer an Bord des Jumbos geschmuggelt haben.

Bolliers schillernde Vergangenheit machte ihn verdächtig: Er pflegte über Jahre hinweg intensive Kontakte zu hohen libyschen Regierungsstellen, Geheimdienst inklusive. Für das Gaddafi-Regime baute er unter anderem das Funknetz von Polizei und Militär auf – und lieferte 1985/86 ­erwiesenermassen 20 sogenannte MST-13-Schaltuhren. Seit Anfang der siebziger Jahre belieferte er auch den DDR-Geheimdienst Stasi mit allerlei elektronischem Material, etwa für Lügendetektoren und Telefonüberwachungen. Trotz Embargo war alles legal und mit Ausfuhrbewilligungen durch die Schweiz genehmigt.


Er verklagt die Schweiz auf 47 Millionen Franken Schadenersatz: der als Tatgehilfe verdächtigte Zürcher Edwin Bollier

Das Beweisgebäude wackelt gewaltig

Ins Visier der Ermittler geriet der Zürcher, als Monate nach dem Absturz in Lockerbie ein fingernagelgrosses Teil einer elektronischen Leiterplatte auftauchte. Die US-Bundespolizei FBI, die zusammen mit den schottischen Behörden die Lockerbie-Ermittlungen leitete, unterbreitete das Fragment der CIA zur Analyse. Dort identifizierte man das winzige Fundstück in kürzester Zeit als Teil einer Leiterplatte eines von Bollier produzierten MST-13-Timers.

Der Rückschluss auf Bollier gelang der CIA dank einem Timer, den die Amerikaner 1986 in Togo sicherstellen konnten. Dieser stammte angeblich aus der Serie, die Bollier 1985 für Libyen produziert hatte. Doch ausgerechnet hier tauchen jetzt gravierende Unstimmigkeiten auf, was die Authentizität dieses entscheidenden Referenztimers grundsätzlich in Frage stellt.

Mit Hilfe eines in Togo sichergestellten Timers (Bild oben) wurde das «Beweisstück» von Lockerbie identifiziert. Doch darin steckt ein Quarz mit der Endziffer 4, den es 1985 noch gar nicht gab. Für die nach Libyen gelieferten Timer wurden nur Quarze mit der Endziffer 3 benutzt (Bild unten).

Dieser Timer enthielt einen Quarz, den es 1985 – als Bollier die Libyen-Timer produzierte – noch gar nicht gab. Dies belegen das Gerichtsfoto des Timers und Rechnungen der Zürcher Firma, die 1985 die Quarze an Bollier geliefert hatte und die dem Beob­achter vorliegen (siehe Bilder oben). Das könnte sich gravierend auf die Beweiskette auswirken: Ohne den «Togo-Timer» hätte das Fundstück gar nie Bollier und damit Libyen zugeordnet werden können.

Ebenso brisant sind neue Erkenntnisse zum winzigen Leiterplatten-Fragment, das an der Absturzstelle gefunden wurde. Heute drängt sich sogar die Frage auf, ob es dieses für die gesamte Beweiskette entscheidende Fundstück überhaupt jemals gegeben hat. Denn sollte es tatsächlich Bestandteil eines nach Libyen gelieferten Timers gewesen sein, hätte es mit einer Legierung aus 70 Prozent Zinn und 30 Prozent Blei beschichtet sein sollen. So waren nämlich erwiesenermassen auch die anderen Libyen-Timer beschichtet. Doch der britische Journalist John Ashton, der seit 20 Jahren zu Lockerbie recherchiert, kann inzwischen auf Basis einer Laboranalyse der Ermittler nachweisen, dass das für die Anklage zentrale Beweisstück zweifelsfrei nur mit reinem Zinn beschichtet war.

Halfen die Schweizer bei der Beweisfälschung?

Für Ashton ist allein aufgrund dieser Unstimmigkeit klar: «Dieses Fragment kann nicht aus der Serie stammen, die Bollier Mitte der achtziger Jahre nach Libyen geliefert hat.» Ashton, der zeitweise auch für Megrahis Verteidigungsteam arbeitete und nun mit «Megrahi: You are my Jury: The Lockerbie Evidence» ein zweites vielbeachtetes Buch veröffentlicht hat, ist überzeugt: «Hätte die Verteidigung über diese Details verfügt, hätte sich das entscheidend auf den Prozess ausgewirkt.»

All diese Unstimmigkeiten stützen Edwin Bolliers stetige Beteuerungen, das Fragment von Lockerbie sei nie Teil eines nach Libyen gelieferten Timers gewesen. Gleichzeitig bestreitet er aber auch nicht, dass das Fundstück von einer anderen Leiterplatte stammte, wie er sie damals in MST-13-Timern eingebaut hatte.

Bollier vermutet bis heute, das in Lockerbie gefundene Stück Leiterplatte stamme von einem Prototyp. Belegen kann er diese Theorie indessen nicht. Allerdings ist aktenkundig, dass am 22. Juni 1989 ein Kommissär der Bundespolizei in Bolliers Firma vorstellig wurde und einen Prototyp einer solchen Leiterplatte behändigte. Was daraus geworden ist, ist nicht bekannt.

Dokumente jahrelang unter Verschluss

Zu Unregelmässigkeiten kam es schon, als das winzige Elektronikbauteil in Lockerbie gefunden wurde: In den Akten ist der Fund anfänglich mit dem Datum 12. Januar 1990 dokumentiert, später mit dem 15. September 1989, und im Schlussbericht schreiben die zuständigen Experten plötzlich vom 12. Mai 1989.

Klar ist, dass beim letzten Datum etwas nicht stimmen kann. Zwei Wochen nach dem 12. Mai tauschten sich drei hochrangige schottische Polizeiermittler in Bern mit der Bundesanwaltschaft über den Stand der Ermittlungen und mögliche Täterhypothesen aus. Doch ein damals neuer Fund eines möglicherweise vielversprechenden Beweisstücks war am zweitägigen Treffen in Bern nicht einmal am Rand ein Thema. Im Protokoll des Treffens vom 24./25. Mai 1989 steht jedenfalls kein Wort dazu.

Die Bundesanwaltschaft wollte dieses Protokoll mit allen Mitteln unter Verschluss halten, musste es aber dem Beobachter nach eineinhalbjährigem juristischem Seilziehen herausgeben. Gemäss den Aufzeichnungen diskutierten die Polizeibeamten damals als mögliche Täterschaft ausschliesslich die palästinensische Splittergruppe PFLP-Generalkommando. Das ist jene Gruppe, die auch für den Swissair-Absturz von Würenlingen (1970) und weitere Flugzeugattentate verantwortlich gemacht wurde.

Weitere Dokumente zeigen, dass es während der gesamten Ermittlungen immer wieder zu bedenklichen Vorgängen kam. Allen voran hielten die Briten jahrelang wichtige Dokumente unter Verschluss, die die offizielle Tatversion hätten in Frage stellen können. Erst kürzlich veröffentlichte die schottische Justizaufsichtsbehörde einen gut 800-seitigen Bericht dazu. Darin listet sie eine ganze Reihe von gravierenden Unstimmigkeiten bei den Ermittlungen auf. Die Behörde kommt zum Schluss, dass die Anklage den Verteidigern von Abdelbaset al-Megrahi wichtige Akten und Informationen vorenthalten habe. Mehrfach habe das Gericht deshalb das Recht des Angeschuldigten auf einen fairen Prozess verletzt.

Immer wieder Zweifel an der Echtheit

Möglicherweise waren die jetzt bekannt gewordenen Unstimmigkeiten den Ermittlern schon Anfang der neunziger Jahre klar – zumindest teilweise. Denn selbst hochrangige Polizeimitarbeiter äusserten immer wieder Zweifel an der Echtheit des an der Absturzstelle gefundenen elektronischen Bauteils. So soll sogar der damalige Chef der zuständigen Abteilung in der Bundesanwaltschaft dem FBI-Chefermittler Richard Marquise anvertraut haben, er vermute, das Fragment sei an der Absturzstelle «platziert» worden. Marquise bestätigt diese Aussage gegenüber dem Beobachter auch heute noch.

Wäre zudem die offizielle These unantastbar, fragt sich, weshalb Bollier nie wegen Gehilfenschaft zur Rechenschaft gezogen wurde. Eine Strafuntersuchung gegen ihn wurde zwar eröffnet, allerdings erst zehn Jahre nach dem Attentat – und nur wenige Wochen vor dem Lockerbie-Prozess. 2004 wurde das Verfahren gegen Bollier in aller Stille wieder beendet. Aus der Einstellungsverfügung, in die die Bundesanwaltschaft dem Beobachter anfänglich aus Staatsschutzgründen die Einsicht verweigerte, die sie aber nach einer Beschwerde vor Bundesverwaltungsgericht herausrücken musste, geht nur hervor, dass Bollier nichts nachgewiesen werden konnte.

Nach all den neu aufgetauchten Fakten gibt sich Bollier kämpferisch: Er hat gegen den damaligen Bundespolizisten Anzeige eingereicht, weil dieser seinem Mitarbeiter im Juni 1989 unerlaubterweise ein elektronisches Bauteil abgenommen habe. Der Polizist konnte sich tatsächlich nicht einmal auf ein Strafverfahren stützen. Und die Schweiz hatte Schottland damals auch noch keine Rechtshilfe gewährt.

Zudem hat Bollier nun auch die Eidgenossenschaft verklagt: auf 47,7 Millionen Franken Schadenersatz.

Text: Otto Hostettler Mitarbeit: John Ashton Bild: AFP


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