Fukushima hat in der Schweizer Energiepolitik ein Erdbeben ausgelöst. Der Bundesrat hat nach der ­Katastrophe den Ausstieg aus der Atomenergie beschlossen und drängt auf einen umfassenden Kurswechsel. Doch was bedeutet der Begriff «Energiewende», der seither in aller Leute Mund ist? Wer will wohin wenden?

Nach dem nicht enden wollenden nasskalten Winterwetter zeigte sich in der Schweiz Ende Mai doch noch die Sonne. Aber kaum war sie da, brauten sich in Bundesbern Gewitterwolken zusammen: Im Nationalrat wurde im Juni heftig über die Betriebsdauer schweizerischer Atomkraftwerke gestritten. Sollen die allesamt ziemlich bejahrten Atomkraftwerke unbeschränkt lange betrieben werden können, falls laufend in ihre Sicherheit investiert wird? Oder braucht es für sie ein amtlich verfügtes Verfalldatum, also einen Termin für ihre definitive Stilllegung?

Die Energiekommission des Nationalrats schlägt eine Laufzeit von maximal 50 Jahren vor. Jenseits der Schmerzgrenze ist dies für die Grünen. Sie wollen die Atommeiler spätestens nach 45 Jahren vom Netz nehmen. Dies fordern sie auch in einer 2012 eingereichten Volksinitiative. Die überwiegend bürgerlichen Ratsmitglieder, die Anliegen der AKW-Betreiber im Blickfeld, drängen hingegen darauf, keinesfalls ein Still­legungsdatum festzulegen, weil sonst in den letzten Betriebsjahren die Vernachlässigung der Sicherheit drohe. Statt sicherer würden die Werke also unsicherer.

Der Streit ist noch nicht ausgefochten, denn der Nationalrat hat den Entscheid auf später im Jahr vertagt. Gleichwohl ist die Debatte bemerkenswert. Statt wie noch vor wenigen Jahren darum zu feilschen, wann und wo neue Atomkraftwerke gebaut werden sollen, wird lediglich noch die nukleare Endzeitdebatte geführt. Die heute in Betrieb stehenden Atomkraftwerke sind also Auslaufmodelle. Was ist passiert?

Die grosse Überraschung ereignete sich am 14. März 2011. An jenem Montag krempelte Energieministerin Doris Leuthard von der Christlichdemokratischen Volkspartei (CVP) mit einem kurzen Statement die schweizerische Energiepolitik um. Die Bundesrätin kündigte an, die Schweiz werde «geordnet» aus der Atomenergie aussteigen, weil «die Sicherheit und das Wohlergehen der Bevölkerung oberste Priorität» habe. Die konkrete Folge des Statements: Die bereits laufenden Rahmenbewilligungsgesuche für zwei neue Atomkraftwerke in der Schweiz wurden kurzerhand auf Eis gelegt. Mit ihrem Hang zur Verkürzung konstatierten die Medien, nun nahe die «Energiewende».


14. März 2011: Bundesrätin Doris Leuthard erklärt Medienvertretern im Bundeshaus die Pläne der Regierung zur Energiewende
(Foto: Keystone)

Erde bebt, Vertrauen wankt

Klar ist, was die Energieministerin dazu bewogen hatte, an jenem Montagmorgen einen neuen Kurs einzuschlagen. Es sind die schrecklichen Ereignisse, die sich drei Tage vor Leuthards Auftritt ereignet und sich der Weltgemeinschaft ins Gedächtnis gebrannt hatten. Zusammengefasst: Am 11. März 2011 bebte um 14:46 Uhr im Pazifik vor der japanischen Region Tohoku die Erde. Die sich hebenden und senkenden Erdplatten lösten gewaltige Flutwellen aus, die eine knappe Stunde später das japanische Festland trafen und mindestens 16 000 Menschen in den Tod rissen. Zur kaum in Worte zu fassenden menschlichen Tragödie gesellte sich eine der grössten technischen Katastrophen der Neuzeit: Das gewaltige Erdbeben und die nachfolgenden Flutwellen trafen die sechs Atomreaktoren von Fukushima Daiichi. Der Betreiberfirma Tepco gelang es im Chaos der Zerstörung nicht, die Werke kontrolliert herunterzufahren. Die Nachkühlung der heruntergefahrenen Werke glückte nicht. In vier Reaktoren kam es zu Explosionen. In drei Reaktoren zur Kernschmelze. Grosse Mengen radioaktiver Stoffe gelangten in die Atmosphäre und ins Meer. Aufgrund der Erschütterungen verschob sich Japans Hauptinsel um über zwei Meter nach Osten. Die Massenverteilung der Erde veränderte sich so stark, dass sich seither die Erde etwas schneller dreht. Auch in Bern.


Das Kernkraftwerk Beznau, der älteste Reaktor der Welt, der noch in Betrieb ist
Foto: Keystone

Energiepolitik mit Klimazielen

Seit dem Schock von Fukushima arbeitet die Bundesbehörde mit erhöhtem Tempo am grundlegenden Umbau der schweizerischen Energiepolitik. Ihr Werkzeug dabei ist die «Energiestrategie 2050». Diese zielt darauf ab, den heute immer noch stetig steigenden Energie- und Stromverbrauch pro Person zu senken. Und sie skizziert, wie der Ausstoss klimaschädigender Emissionen bis ins Jahr 2050 entscheidend zu senken ist. Das verdeutlicht, dass die Strategie weit über den Ausstieg aus der Atomenergie und den Umbau der Stromversorgung hinausgeht: Sie will Atomausstieg und Klimaschutz unter einen Hut bringen. Dazu muss die Schweiz aber ihre Abhängigkeit vom Erdöl vermindern. Heute stillt das Land seinen Hunger nach Energie noch zu rund drei Vierteln mit fossiler Energie. Der verbleibende Viertel wird hauptsächlich mit Strom gedeckt, zu rund 40 Prozent mit Atomstrom. Für den Weg hin zum skizzierten Ziel schlagen die Experten des Bundes vor, einerseits Strom viel effizienter zu nutzen und anderseits massiv mehr Strom aus Sonne und Wind zu gewinnen. Vorgeschlagen werden raschere und einfachere Bewilligungsverfahren, eine Forderung ist die Modernisierung und der Ausbau der Stromnetze. Und empfohlen wird, zur Sicherung der Stromversorgung mittelfristig auch auf Gaskraftwerke zu setzen. Diskutieren und benoten wird das Parlament dieses umfassende Massnahmenpaket, das die Revision zahlreicher Gesetze nach sich ziehen wird, wohl noch dieses Jahr.

«Planwirtschaftliche Attitüden»

Noten verteilt werden allerdings schon heute. Umweltaktivisten klagen, solange kein Datum für die Abschaltung der bestehenden fünf AKWs (Beznau I, Beznau II, Gösgen, Mühleberg, Leibstadt) festgelegt sei, fehle jeder Antrieb für eine echte Energiewende. Der Bundesrat verfolge eine «unrealistische» Energiepolitik, sagen hingegen viele Wirtschaftsvertreter. Zwar frohlocken Gewerbekreise über die Jobs, die durch den Ausbau erneuerbarer Energien geschaffen werden könnten. Kühne Schätzungen rechnen mit bis zu 100 000 zusätzlichen Arbeitsplätzen. Die exportorientierte Wirtschaft mag in diesen Applaus nicht einstimmen. Sie fürchtet, dass steigende Energiekosten im Inland ihre Wettbewerbsfähigkeit im Ausland beeinträchtigen könnten. Der Branchenverband Swissmem, der die Interessen der Maschinen-, Elektro- und Metallindustrie vertritt, kritisiert etwa, der Bundesrat überschätze die Möglichkeiten zur Verbesserung der Energieeffizienz und zur stärkeren Nutzung alternativer, erneuerbarer Energiequellen. Jean-Philippe Kohl, der Leiter des Bereichs Wirtschaftspolitik bei Swissmem, spricht gar von «planwirtschaftlichen Attitüden» und «ausgeprägtem Machbarkeitsglauben». Man blende vorschnell aus, dass bei einem grundlegenden Umbau des Energiesystems «vieles gleichzeitig» erfolgen müsse: die Investition in neue Technologien, der Ausbau der Netze, die bessere Einbindung in den europäischen Strommarkt, der Aufbau neuer Speichermöglichkeiten, weil Strom aus Sonne und Wind im Gegensatz zu jenem aus Kernenergie in stark schwankenden Mengen anfalle. Die Energiestrategie 2050 des Bundesrats sei wirklich fundamental, sagt Kohl. «Insbesondere beim Strom bedeutet dies eine Abkehr von der zentralen Stromproduktion hin zur dezentralen, verbunden mit einer hohen staatlichen Eingriffstiefe.» Gleichzeitig betont er, die exportorientierte Wirtschaft stelle sich nicht gegen eine nachhaltigere Energieversorgung, müsse aber auf einen Umbau der Energie- und Klimapolitik pochen, der im Gleichschritt mit dem internationalen Umfeld erfolge. Die Idee, die Schweiz müsse «mit dem guten Beispiel vorangehen», sei «reichlich naiv». Skeptisch stellen sich Swissmem und andere Wirtschaftsverbände zum Ausbau der Subventionen für die Förderung alternativer, nachhaltiger Energien: «Wir befürchten, dass die Schweiz aus der Subventionsmaschinerie nicht mehr rauskommen wird.»


Bilder der Zukunft 1: Sonnenkollektoren auf den Dächern in Schiers (GR); (Foto: ZVG)

«De facto ein Pseudoausstieg»

Eine ganz andere Position vertritt Jürg Buri, der Geschäftsführer der Schweizer Energiestiftung (SES). Die Stiftung, die schon seit 1976 für eine «intelligente, umwelt- und menschengerechte Energiepolitik» kämpft und sich dabei am Modell der 2000-Watt-Gesellschaft orientiert (siehe Text unten), verfolgt die laufende Entwicklung laut Buri mit einiger Genugtuung. Effizientere Energienutzung, Atomausstieg, Abbau der Abhängigkeit von nur beschränkt verfügbaren, fossilen Energien und die weit stärkere Nutzung alternativer, nachhaltiger Energiequellen: Diese Ziele der Energiestrategie 2050 lesen sich, als wären sie direkt aus einem SES-Papier kopiert. Dennoch meldet Buri Bedenken an. Die allgemeine Richtung, die mit der Energiewende eingeschlagen werde, sei zwar richtig und der Beitrag der Energieministerin enorm wichtig: «Sie versteht die Materie. Sie hat richtigerweise aus dem Atomausstieg eine Energiewende gemacht.» Gut sei, dass Leuthard eine Debatte über den Gesamtenergieverbrauch fordere. Aber leider, sagt Buri, bleibe der Atomausstieg halbherzig: «Der propagierte geordnete Ausstieg ist de facto ein Pseudoausstieg. Es werden zwar keine neuen Atomkraftwerke gebaut. Aber die heutigen AKW-Betreiber wollen ihre alten Werke dafür viel länger betreiben.» So wie dies auch zahlreiche Umweltorganisationen tun, pocht die SES deshalb auf klare Abschalttermine für die bejahrten Atommeiler. Alte Werke laufend nachzurüsten, führe zur absurden Situation, dass die Schweiz zwar aus Sicherheitsüberlegungen auf neue AKWs verzichte, aber durch den Weiterbetrieb «maroder» Atommeiler laufend höhere Sicherheitsrisiken in Kauf nehme, als sie dies beim Bau neuer Werke tun würde.

Gespaltene Lager

Allerdings gibt es auch innerhalb dieses politischen und weltanschaulichen Lagers mit viel Energie ausgetragene Konflikte. So sind viele Umweltorganisatoren gleichzeitig Motoren wie auch Bremser der Energiewende. Sie befürworten die Wende generell, beklagen aber neuen Druck auf Natur, Gewässer, Landschaft, Ortsbilder und Klima. Das Beispiel: Strom aus Wasserkraft hat für sie zweifelsohne die Aura des Natürlichen. Aber die letzten naturnahen Flüsse der Stromgewinnung zu opfern, widerspricht ihrem Schutzgedanken. Die radikalsten unter ihnen verlangen deshalb, bei der Energiewende allein auf Einsparungen beim Verbrauch zu setzen.

Uneinig sind sich auch die Wirtschaftsorganisationen. Zwar nehmen Swissmem und Economiesuisse, der grösste Unternehmerverband der Schweiz, eine sehr kritische Haltung zur Energiestrategie 2050 ein. Aber mit Swisscleantech mischt ein grüner Wirtschaftsverband die Debatte auf, der sich ohne Wenn und Aber für ressourceneffizientes und emissionsarmes Wirtschaften stark macht.


Bilder der Zukunft 2: Landschaft mit Windturbinen in Süddeutschland
(Foto: ZVG)

Diskrete Stromlobby

Vergleichsweise diskret verhalten sich die grossen Energiekonzerne wie Alpiq, Axpo und BKW. Sie bekunden Mühe, sich aus der durch die Fukushima-Tragödie ausgelösten Erstarrung zu lösen. Heinz Karrer etwa, CEO der Axpo Holding, und bis vor ­Fukushima ein vielzitierter, kämpferischer Promotor neuer Atomkraftwerke, bleibt auffällig unauffällig. Er beschränkt sich darauf, vor überstürzten Weichenstellungen zu warnen. Im Sprint lasse sich die Energiewende nicht schaffen: «Die Kräfte wären aufgezehrt, lange bevor das eigentliche Ziel in Sicht ist», sagt er. Die Zurückhaltung der grossen Energiekonzerne ist erklärbar: Sie sind die potenziellen Verlierer der Wende. Wenn dereinst wirklich Hunderttausende auf ihren Hausdächern Solarpanels montieren und dezentral produzierten Strom ins Netz einspeisen, kommen sie in die Zwickmühle. Nicht die Grosskonzerne sind dann die marktgestaltenden Kräfte, sondern all die kleinen Elektrizitätswerke, die noch direkte Kundenkontakte haben. Die Grossen hingegen sitzen auf ihren gigantischen Infrastrukturen.

In dieser Wunde bohren auch politische Beobachter wie der Zürcher Ökonom und Publizist Christoph Zollinger. Ernsthafte technische Hindernisse für die Energiewende sieht er keine. Die wirklichen Hindernisse seien «die Blockade in den Köpfen» und der Machtkampf hinter den Kulissen. Schicke sich nämlich eine ganze Nation an, selber Energie zu erzeugen – etwa mit Solaranlagen auf dem eigenen Dach – verändere sich die Rolle und der Einfluss der bisherigen Energielieferanten dramatisch. Zollinger: «Der Streit um die Zukunft des Stroms ist auch ein Kampf um Pfründe, Besitzstände, Macht und Monopole. Die Energiewende stellt einen gewaltigen Umbau unserer Gesellschaft dar.»


Bilder der Zukunft 3: Fassaden älterer Bauten, neu verkleidet mit Kollektoren wie bei der
Überbauung Sihlweid in Zürich
(Foto: ZVG)

Eine Wende von unten nach oben

Wer bloss die politische Debatte auf nationaler Ebene verfolgt, mag zum Schluss kommen, die schweizerische Energiewende sei zwar «eine grosse Kiste», so drückte sich Bundesrätin Leuthard aus, aber eine Kiste voller vorerst nur angekündigter Schritte. Der Eindruck trügt, denn insbesondere Städte und grössere urbane Gemeinden schaffen bereits jetzt laufend neue Fakten. Sie vollziehen die Wende. So plant die Gemeinde Payerne (VD) derzeit die grösste Solaranlage der Schweiz. Auf den Dächern der Ortschaft werden 100 000 Quadratmeter Solarpanels montiert. Der solar erzeugte Strom soll den Bedarf für sämtliche 9500 Einwohnerinnen und Einwohner der Stadt decken. Payerne ist kein Einzelfall, erheben doch derzeit viele Gemeinden, wie viel Sonne ihnen aufs Dach scheint. Die Berner Vorortsgemeinde Köniz ist nach der Begutachtung aller Dachflächen gar zum Schluss gekommen, dass exakt gleich viel nutzbare Solarenergie auf die vorhandenen Dächer einstrahlt, wie die 40 000 Einwohner insgesamt an Strom verbrauchen. Der Kommentar der Könizer Umweltvorsteherin Rita Haudenschild: Der Bund schätze das Potenzial der Solarenergie «viel zu zurückhaltend» ein, denn das Ziel der Energiestrategie, rund 20 Prozent des Stroms solar zu produzieren, lasse sich leicht und vor allem sehr rasch erreichen.

Andernorts machen nicht Politiker, sondern die kleineren Energiewerke Tempo. Sie erneuern ihr örtliches Stromnetz so, dass mehr private Produzenten Strom ohne technische Probleme ins Netz einspeisen können. Das ist die wichtigste technische Voraussetzung zur Förderung der dezentralen, nachhaltigen Energieerzeugung. Zudem sind es die kleineren Energiewerke, die den Konsumentinnen und Konsumenten die Furcht vor unbezahlbaren Stromrechnungen nehmen wollen. Peter Lehmann, Energieexperte und CEO des regionalen Energieversorgers von Wohlen im «Atomkanton» Aargau, argumentiert, Schweizerinnen und Schweizer könnten sich selbst eine radikale Wende – eine Stromversorgung ausschliesslich aus erneuerbaren Quellen – leisten: «Geht man davon aus, dass bis 2050 der Einzelne dank effizienterer Technologie gegenüber heute 25 Prozent weniger Strom verbraucht, entsprächen die Mehrkosten für einen durchschnittlichen Vier-Personen-Haushalt jährlich etwa 400 Franken. Das zeigt, dass die Mehrkosten überschaubar und durchaus finanzierbar sind.» (MARC LETTAU ist Redaktor der «Schweizer Revue»)

Schweizerische Rezepte gegen den unbändigen Energiehunger

Der Blick der Schweizerinnen und Schweizer aufs Thema Energie verändert sich. Als in der Ölkrise von 1973 die OPEC-Staaten die Ölfördermenge drosselten, galt die Hauptsorge dem Preis. In der Schweiz wurden damals strenge Tempolimiten und Sonntagsfahr- verbote verfügt. An den um 70 Prozent hochgeschnellten Energiekosten änderte dies nichts. Heute hingegen kritisieren zahlreiche Umweltverbände, die Energiepreise seien so tief, dass der Verschwendung kaum Einhalt geboten werde. Und der stets stei- gende Energieverbrauch treibe den Klimawandel an. Die Hauptsorge gilt also immer stärker der verbrauchten Menge.

Denkarbeit, wie der menschliche Energiehunger auf ein nachhaltiges Mass gesenkt werden kann, leistet seit den 1990er-Jah- ren die Eidgenössische Technische Hochschule (ETH) Zürich. Sie hat das Konzept einer 2000-Watt-Gesellschaft entwickelt. Die Kernidee: Der Energiebedarf jedes Menschen darf eine durchschnittliche Leistung von 2000 Watt nicht überschreiten, soll der weltweite Energieverbrauch und der Ausstoss von klimaschädigenden Treibhausgasen auf ein vertretbares Mass sinken. Auf ein Jahr hochgerechnet bedeutet dies, dass sich jedes Individuum für Heizung, Mobilität und Nahrung mit 17 500 Kilowattstunden (kWh) begnügen soll. Um dieses Ziel zu erreichen, müsste in der Schweiz das Rad punkto Energieverbrauch um rund 50 Jahre zurückgedreht werden auf den Stand von 1960.

Die ETH-Forscher propagieren keine Askese. Sie streben nach technischen Lösungen, um den heutigen Lebensstandard zu si- chern - aber bei gleichzeitig viel tieferem Energieverbrauch. Folgen hat das Konzept der 2000-Watt-Gesellschaft bereits im Immo- biliensektor der Schweiz: Gut gedämmte Neubauten mit sehr tiefem Energieaufwand fürs Heizen, Kühlen und Belüften sind heute die Regel. Zudem steigen die Marktanteile besonders energieeffizienter Geräte oder verbrauchsarmer Autos. Weil aber stets neue - energiekonsumierende - Bedürfnisse geschaffen werden, steigt der Gesamtenergieverbrauch pro Kopf noch immer an. Die Schweizerinnen und Schweizer sind also noch weit von einem nachhaltigen Lebensstil entfernt. Der Primärenergiebedarf liegt derzeit bei 6300 Watt pro Person, der jährliche CO2-Ausstoss bei rund 9 t pro Person. Das Nachhaltigkeitsziel lautet aber: maximal 1 t CO, pro Person. Mit der vom Bundesrat vorgelegten Energiestrategie 2050 dürfte der CO2-Ausstoss immerhin signifikant sinken und der Energieverbrauch auf rund 4000 Watt gedrosselt werden.

Bleibt die nachhaltige 2000-Watt-Gesellschaft trotz Energie- wende eine Utopie? Die Eidgenössische Materialprüfungs- und Forschungsanstalt (Empa) in Dübendorf hat im Mai ernüchternde Studienergebnisse präsentiert. Derzeit erreichen in der Schweiz nur rund zwei Prozent die Ziele der 2000-Watt-Gesellschaft. Was den Empa-Forschern auffiel: Der geringere Energiebedarf ist zwar erreichbar. Aber den angestrebten tiefen CO2-Ausstoss erreichen die wenigsten. Nicht allein der hohe Energieverbrauch ist das Problem, sondern der Umstand, dass ein sehr grosser Anteil des Ener- giehungers noch immer mit Erdöl gedeckt wird. Forschungsleiter Dominic A. Notter: «Allein durch das Essverhalten der untersuchten Bevölkerung wird fast eine Tonne CO, pro Person und Jahr produziert.» An die Devise, es lasse sich alles ins Lot bringen, ohne den Lebensstandard in Frage zu stellen, glaubt Notter nicht: «Wir müssen genügsamer werden.»

Der eigene Fussabdruck

Was aber ist genügsam? Die wenigsten Individuen können ihren «Energiehunger» beziffern. Allerdings ist auch dies im Wandel, denn die Zahl der Hilfsmittel, mit denen sich der persönliche ökologische Fussabdruck errechnen lässt, zum Beispiel unter www.ecospeed.ch, nimmt laufend zu. Die Probe aufs Exempel wird es freilich den allermeisten zeigen: Bis hin zum guten Gewissen ist der Weg ziemlich lang. (mul)

https://www.energiestiftung.ch
https://www.swisscleantech.ch
https://www.ecospeed.ch
https://www.2000watt.ch
https://www.energybox.ch


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