Fast alle ihre Errungenschaften verdankt die Menschheit dem Alten Kontinent. Das lässt sich beweisen. Doch wer diese Wahrheit ausspricht, gilt als engstirniger Eurozentrist
Vor ein paar Monaten war ich Gast des Aspen Instituts in Berlin. Ich sollte dort über die Rolle Europas in der Geschichte der Wissenschaften und der Künste vortragen. Dabei war ich in der angenehmen Position – wie man hätte meinen können –, einem deutschen Publikum darzulegen, wie gewaltig die Beiträge Europas und insbesondere Deutschlands waren. Doch meine Zuhörer waren davon nicht sonderlich angetan. Und das hatte ich auch erwartet. In den sechs Jahren, die ich an einem Buch über dieses Thema gearbeitet habe, hatte ich nämlich gelernt, dass es für europäische Intellektuelle offenbar ein zutiefst beunruhigendes Unterfangen ist, Europas Vergangenheit zu feiern.
Schauen Sie sich all die Kriege und all das Leid an, hervorgerufen von der europäischen Kultur! Nun, entgegnete ich, blutige und unsinnige Kriege haben in der Menschheitsgeschichte überall stattgefunden. Das moderne Europa (das von 1400 bis 1950) war insofern nicht besser oder schlechter als andere.
Schauen Sie sich die Armut und die Ausbeutung der Armen in Europas Geschichte an! Gewiss, aber Armut und Ausbeutung sind der Normalfall für beinahe alle Menschen gewesen, die jemals gelebt haben, von einer winzigen Gruppe abgesehen. Die philosophisch begründete Anklage der Ausbeutung hat freilich ihren Ursprung im modernen Europa, und hier geschah es auch, dass sich der Wohlstand von den Herrscherhäusern auf die breite Bevölkerung auszudehnen begann.
So ziemlich alle Sünden in der Geschichte kamen zur Sprache, wie Rassismus, Sexismus und Elitismus – alles Übel, die seit je von Menschen gegen Menschen verübt wurden und die in der Geschichte Europas nur deswegen beachtenswert sind, weil dieser Kontinent immerhin etwas dagegen unternommen hat. Muss wirklich daran erinnert werden, dass die Demokratie ein Geschenk Europas an den Rest der Welt ist? Doch das europäische intellektuelle Gewissen scheint nur die Schuld zu kennen – als ob etwas Unerlaubtes daran sei, Europas Größe zu rühmen, und als ob nichts anderes zulässig sei, als die Sünden Europas zu geißeln.
Gewisse Meinungsverschiedenheiten werden unauflöslich bleiben, egal, wie viele Daten man sammelt. Ich möchte aber annehmen, dass die beiden folgenden Feststellungen nicht in diese Kategorie fallen, denn sie sind der empirischen Überprüfung zugänglich. Erstens: Fortschritt ist eine geschichtliche Tatsache und die Welt für den heutigen Durchschnittsmenschen ein unvergleichlich lebenswerterer Ort, als sie es je zuvor war. Zweitens: Europa war die treibende Kraft dieses Fortschritts, und keine andere Zivilisation kommt auch nur im Entferntesten an diese Leistung heran.
Nun sind wir Menschen in vielerlei Hinsicht ein trauriger Haufen, geneigt zu jeglicher Art von Eitelkeit und Fehlern. Der Weg der Menschheit ist gekennzeichnet von Irrtümern, Rückfällen und schrecklichen Verbrechen. Doch im Ganzen gesehen, war es ein Weg nach vorn. Auf jedem Gebiet hat es in den vergangenen 600 Jahren sensationelle Verbesserungen gegeben, die bis heute nachwirken.
Können Sie sich irgendeinen Moment der Geschichte vorstellen, an dem Sie lieber leben würden? Die spontane Antwort mag ein Ja sein. Die Möglichkeit, im Florenz der Renaissance, in Samuel Johnsons London oder im Paris der Belle Epoque zu leben, wäre verlockend. Aber nun kommt der Haken: Für welche Epoche Sie sich auch entscheiden, Sie müssen zugleich an einer fiktiven Lotterie teilnehmen, die Ihnen eine Lebenssituation zuweist, und die Chancen entsprechen der damaligen Verteilung. Im Florenz der Renaissance würden Sie also höchstwahrscheinlich arm sein, hart in einer niederen Tätigkeit arbeiten und schließlich ein frühes Grab finden. Wie antworten Sie jetzt? Oder einfacher gefragt: Wären Sie bereit, vor der Erfindung der Antibiotika zu leben?
Sprechen wir über Kunst, gut, dann will ich meinen Optimismus ein wenig einschränken – allerdings wirklich nur geringfügig. Es ist schwierig, überzeugende Argumente dafür zu finden, dass die heutige Literatur, Kunst und Musik an die Meisterwerke früherer Epochen heranreichen oder gar bedeutende Fortschritte darstellen. Andererseits könnten Sie weder Cézanne noch Picasso genießen, hätten Sie sich für ein Leben im Florenz der Renaissance entschieden. In Johnsons London würden Sie Beethoven und Brahms nicht hören können. Und in der Belle Epoque wären Sie nicht in der Lage, Joyce oder Brecht zu lesen. In unserer heutigen Zeit zu leben heißt hingegen, Zugang zum Besten zu haben, das bisher geschaffen wurde. Und zwar Zugang von einer Breite und Leichtigkeit, die in diesem Ausmaß selbst unsere Eltern nicht kannten, ganz zu schweigen von früheren Generationen. Und selbst wenn das, was heute als Hochkultur gilt, steril oder zügellos sein mag – haben Sie das ungewöhnliche Talent bemerkt, das sich in den Produkten der heutigen Popkultur widerspiegelt?
Es ist schon wahr, auf die bedeutendsten Werke der Geschichte besitzt das moderne Europa kein Monopol. Die einschlägigen Experten rechnen zum Beispiel die chinesischen Poeten Du Fu und Li Bo zu den größten Dichtern aller Zeiten, und nicht nur der chinesischen Geschichte. Ein japanischer Steingarten oder die Teezeremonie zeugen von einer ästhetischen Sensibilität, so raffiniert und durchdacht, wie sie Menschen nur irgend kennen. Und es gibt – wer wollte das bestreiten – glanzvolle intellektuelle Leistungen nichteuropäischer Wissenschaftler. Ein chinesischer Mathematiker bestimmte etwa im Jahr 200 nach Christus den Wert der Zahl Pi bis auf sieben Stellen hinter dem Komma. Ein anderer chinesischer Gelehrter namens Shen Gua stellte die Prinzipien von Erosion und Stratifizierung auf, die Grundlagen der modernen Geologie – 700 Jahre bevor sie in Europa formuliert wurden. Man sollte die brillanten, außerhalb Europas gewonnenen Erkenntnisse der Wissenschaft also nicht ignorieren. Es ist nur wichtig, realistisch zu bleiben, wenn es um die Quantitäten geht.
Messbare Mengenverhältnisse existieren auch in Kunst und Philosophie; sie zu untersuchen und darzulegen ist freilich zu kompliziert, um es kurz zu tun. Deswegen will ich mich hier auf die Quantitäten in Naturwissenschaft und Technik konzentrieren, die immerhin entscheidend war für den materiellen Fortschritt, wie wir ihn heute kennen. Hier die Quintessenz: Wenn wir die wichtigsten Entwicklungen der Naturwissenschaft und Technik zusammenstellen und deren geografische Verteilung von 800 vor Christus bis 1950 analysieren, kommen wir zu dem Schluss, dass 80 Prozent der bedeutenden Ereignisse in Europa stattfanden. Fügen wir noch Nordamerika hinzu, dann kommen wir sogar auf etwa 97 Prozent. Auch wenn wir versuchen, die qualitative Bedeutung dieser Geschehnisse zu gewichten, kommen wir – minus ein paar Prozentpunkte – auf das gleiche Ergebnis.
Betrachten wir anstelle der Ereignisse die Personen, also Erfinder und Entdecker, so erreichen wir die gleichen Werte. Dies gilt sogar, wenn Geschichtsdarstellungen nichteuropäischer Autoren die alleinigen Datenquellen einer solchen quantitativen Untersuchung sind. Welche Messmethode man auch verwenden mag, stets zeigt sich der überwältigende Beitrag Europas. Es gibt im Übrigen keinen Streit über die Faktenbasis. Wissenschafts- und Technikhis-toriker in der ganzen Welt arbeiten mit denselben Daten, und wenn die Empirie auch Lücken aufweist, ist doch keine von ihnen groß genug, mehr als eine Justierung des Gesamtergebnisses zu erwarten.
Dem Durchschnittseuropäer sind die Leistungen nichteuropäischer Kulturen oft nicht bewusst. In vielen Fällen trifft der Vorwurf des Eurozentrismus daher leider zu. Die Verfasser der einschlägigen historischen Werke über die Entwicklung von Wissenschaft und Technik indes, jener Bücher also, die meinem Argument zugrunde liegen, blenden die Beiträge anderer Kontinente keineswegs aus. Sie berichten ausführlich davon, dass die Arbeiten der großen arabischen Schriftgelehrten vor eintausend Jahren die Grundlage für den Beginn der europäischen Wissenschaft bildeten. Die herausragenden Arbeiten indischer Mathematiker wurden schon vor langer Zeit übersetzt und in die Mathematikgeschichte aufgenommen. Gleiches gilt für die Arbeit chinesischer Naturforscher und Astronomen. Daher meine Behauptung, dass es heute keine bedeutende Anzahl unbeachteter Errungenschaften von Nichteuropäern mehr gibt.
Wie aber kann ich diese Behauptung aufstellen, wenn Lehrbücher an amerikanischen Schulen verbreiten, dass Europas Rolle überbetont werde? Auf dem Einband von („Naturwissenschaft und Technik in der Weltgeschichte“), einem 1999 von James McClellan und Harold Dorn veröffentlichten amerikanischen College-Lehrbuch, heißt es beispielsweise: „Ohne die wichtigen Personen der westlichen Naturwissenschaften wie Newton und Einstein zu vernachlässigen, zeigen die Autoren die großen Erfolge nichtwestlicher Kulturen. Sie erinnern uns daran, dass die Ursprünge der naturwissenschaftlichen Tradition in China, Indien, Zentral- und Südafrika sowie in zahlreichen nahöstlichen Weltreichen liegen.“ Erschüttert dies mein schönes 97-Prozent-Ergebnis?
Mitnichten. Im Fall von Science and Technology in World History sind die zehn Personen mit den meisten Einträgen im Register am Ende des Bandes die Folgenden: Aristoteles, Newton, Kopernikus, Galilei, Darwin, Ptolemäus, Kepler, Descartes, Euklid und Archimedes. Eine recht konventionelle Hitparade. Mehr noch: 97 Prozent der im Index von McClellan und Dorn aufgezählten Wissenschaftler kommen aus Europa und den Vereinigten Staaten – genau der gleiche Prozentsatz, den auch meine Analyse ergeben hatte. Lassen Sie mich nun eine Aufgabe formulieren: Zu attackieren sei die 97-Prozent-Marke, die meiner Meinung nach die wissenschaftlichen Leistungen von Europa und Nordamerika (wo 99 Prozent der bedeutenden Beiträge bis 1950 von Nachkommen europäischer Einwanderer stammen) definiert. Die Aufgabe bestehe darin, die Liste der nichteuropäischen Personen und Ereignisse durch zusätzliche Recherchen systematisch so weit zu verlängern, dass die 97-Prozent-Marke nachweislich unterschritten wird. Allerdings gibt es zwei Einschränkungen. Erstens müssen die Entdeckungen und Erfindungen wirklich neu gewesen sein. Die erste indische Hängebrücke darf also nicht zur Liste der indischen Erfindungen hinzugefügt werden, wenn es schon anderswo Hängebrücken gab. Die zweite Einschränkung besagt, dass die Regeln zur Vervollständigung der Listen nach dem Gleichheitsprinzip angewendet werden müssen. Wenn Sie die Liste der nichteuropäischen Erfindungen durch Recherchen in Joseph Needhams siebenbändiger Abhandlung über chinesische Wissenschaft und Technik erweitern, müssen Sie den Bestand der europäischen Leistungen durch das Nachschlagen in ähnlich umfangreichen Werken beispielsweise zur deutschen Naturwissenschaft überprüfen. Mit anderen Worten: Es ist nicht zulässig, die europäischen Errungenschaften mit dem bloßen Auge zu suchen und für die nichteuropäischen ein Mikroskop zu benutzen.
Wer sich an diese Einschränkungen hält, wird zu folgendem Ergebnis kommen: Wenn die Suche nach „bedeutenden Ereignissen“ und „bedeutenden Personen“ aus Naturwissenschaft und Technik ein Dutzend zusätzlicher nichteuropäischer Einträge ergibt, werden auf der anderen Seite Hunderte Errungenschaften aus Europa hinzukommen. Es wird sich also auch nach dieser Methode am Gesamtbild nichts ändern. Aufgrund des umfangreichen europäischen Beitrags wird Europas Position allenfalls noch mehr herausstechen. Das von mir beschriebene Ausmaß europäischer Dominanz ist nämlich eine sehr vorsichtige Schätzung.
Anders gesagt: Gewöhne dich daran, Europa. Du warst absolut außergewöhnlich. Warum nur hältst du dich dermaßen zurück, dies zuzugeben? Es anzunehmen? Es – zu feiern?
Der Autor gehört zu den meistdiskutierten konservativen Publizisten Amerikas. Sein 1984 erschienenes Buch „Loosing Ground“ gilt als bedeutender Denkanstoß für wirtschaftsliberale Reformen des Sozialstaats. Zehn Jahre später stellte das von ihm mitverfasste Buch „The Bell Curve“ einen Zusammenhang zwischen angeborener Intelligenz und Klassenlage her. Einige der tragenden Thesen dieses Buches wurden danach von Statistikern widerlegt. Murrays jüngstes Buch, „Human Accomplishment: The Pursuit of Excellence in the Arts and Sciences, 800 B.C. to 1950“ (HarperCollins Publishers 2003, 27,27 Euro), enthält quantitative Untersuchungen der Wissenschafts- und Technikgeschichtsschreibung
Aus dem Englischen von Britta Meyer