Durchgefallen
Viele Amerikaner würden selbst den US-Einbürgerungstest nicht bestehen. Schuld sein sollen das komplizierte politische System, die Schulen oder fehlende Neugier.
Das renommierte US-Magazin «Newsweek» hat kürzlich 1000 Amerikaner anhand des standardisierten Einbürgerungstests über ihre Staatskenntnisse befragt. Das Resultat ist besorgniserregend: 29 Prozent wussten nicht, wer derzeit Vize-Präsident ist (Joe Biden), 73 Prozent konnten nicht sagen, worum es im Kalten Krieg ging (gegen den Kommunismus), und 70 Prozent hatten keine Ahnung, welches das höchste Gesetz des Landes ist (die Verfassung).
Noch peinlicher fällt offenbar der Vergleich mit anderen Ländern aus: In einer Umfrage des «European Journal of Communication» wussten 68 Prozent der Dänen, 75 Prozent der Briten und 76 Prozent der Finnen, wer die Taliban sind. Bei den Amerikanern waren es nur deren 58 - und das, obwohl die USA den Krieg in Afghanistan anführen, wie «Newsweek» schreibt.
Politisches System zu komplex
Doch wo liegen die Gründe für diese Unterschiede? Das Magazin zitiert Jacob Hacker, einen Politologen der Universität Yale, wonach «viele europäische Parlamente nach dem Proporzsystem gewählt werden und Mehrheitsparteien ohne grosse Rücksicht auf regionale und lokale Ebenen regieren können». Dass die Amerikaner Mühe bekunden, sich im vergleichsweise komplexeren politischen System der USA zurechtzufinden, sei deshalb klar. Niemand verstehe den bürokratischen Knäuel auf Bundes-, Staaten- und Gemeindeebene sowie die ständigen Wahlen für irgendwelche Ämter (Richter, Sheriff, Schulpflege). Dieses Bewusstsein entmutige die Menschen, sich zu bemühen und dazuzulernen.
Ironischerweise offenbart Hackers Argumentation selbst eine Ignoranz der politischen Landschaft Europas. Neben zentralistisch geführten Staaten wie Frankreich und Italien gibt es auch föderale wie die Schweiz, Deutschland oder Österreich. Kommt hinzu, dass mindestens so häufig Koalitionen und nicht Mehrheitsparteien regieren, was die politische Landschaft sogar eher komplizierter macht als das traditionelle Zweiparteiensystem der USA.
Armut und Immigration
Als weitere Gründe für die Wissenslücken der Amerikaner werden grosse Einkommensunterschiede und Einwanderung genannt. «Im Unterschied zu Dänemark haben wir viele arme Leute, die keinen Zugang zu einer guten Ausbildung haben, sowie viele Einwanderer, die nicht einmal englisch sprechen», zitiert «Newsweek» Dalton Conley, Soziologe der New York University. Dieses Argument hinkt ebenfalls, da Westeuropa spätestens seit Ende des Zweiten Weltkriegs ein Einwanderungsgebiet ist. Richtig ist hingegen, dass die Einkommensschere in den USA weiter aufgeht.
Das dezentrale Schulsystem in den USA soll ebenfalls ein Grund sein. Vereinheitlichte Schulpläne würden demnach eine gemeinsame Wissensbasis und damit die Bürgerkultur fördern. Doch auch hier zeigt das Beispiel Schweiz, dass flächendeckend anständige Bildung auch in föderalen Strukturen möglich ist.
Mehr Privatfernsehen
Das «European Journal of Communication» kam ausserdem zum Schluss, dass die Marktdurchdringung von Privatsendern in den USA grösser sei und diese im Vergleich zum öffentlich-rechtlichen Rundfunk weniger internationale Nachrichten senden. Was wiederum die Frage aufwirft, warum sich Amerikaner tendenziell öfter seichtem Privatfernsehen zuwenden.
Der «American Chronicle» nennt in diesem Zusammenhang einen Faktor, auf den «Newsweek» nicht weiter eingegangen ist: Fehlende Neugier. Amerikaner seien sehr kompetent in ihrem Beruf und einigen Hobbys, doch sich mit Dingen auseinanderzusetzen, die keine unmittelbaren praktischen Resultate hervorbringen, werde als Zeitverschwendung erachtet. Europa hingegen schätze den Wert einer Allgemeinbildung, die auch Geschichte und Geografie anderer Staaten miteinschliesst.
Gebrechen oder unheilbare Krankheit?
«Newsweek» vertritt die Ansicht, dass die Amerikaner früher nicht weniger ignorant waren als heute. Nur: Vor der Globalisierung sei das weniger ins Gewicht gefallen und ausserdem von vermittelnden Organisationen wie Gewerkschaften aufgefangen worden. Das gelte heute nicht mehr. Stattdessen würden an beiden Enden des politischen Spektrums extreme Meinungsführer die Debatte dominieren und die politischen Entscheidungsträger genau in den falschen Momenten in die Irre führen.
Als Beispiel wird der aktuelle Streit über die Reduzierung des US-Defizits angeführt. Laut einer Umfrage von CNN verlangen 71 Prozent der Amerikaner eine geringere Staatsquote. Gleichzeitig lehnen sie Einsparungen am Gesundheitswesen und dem Rentensystem vehement ab. Die Regierung soll sparen, aber die Bevölkerung kann ihr nicht sagen, wo.
«Das Problem ist Unwissen, nicht Dummheit. Uns fehlen Informationen, nicht Fähigkeiten», relativiert der Yale-Politologe Hacker. Ob dies ein «behandelbares Gebrechen» oder eine «unheilbare Krankheit» sei, wird sich laut «Newsweek» weisen. Aber jetzt sei ein guter Zeitpunkt, nach einer Medizin zu suchen. (kri)