Er hat in Venedig die grösste Kornmühle Europas aufgebaut: Giovanni Stucky von Münsingen BE. Auf dem Gipfel seines Erfolges wurde er ermordet. Aber sein «Molino Stucky» prägt noch heute das Stadtbild.
Giovanni Stucky schreitet die Treppe zum Bahnhof von Venedig hoch. Es ist der 21. Mai 1910, und der Industrielle ahnt nicht, dass dies sein Todestag sein wird. Der 67-jährige ist eine imposante Erscheinung mit seinen 1,92 Metern und dem hellen Patriarchenbart. Er ist von seiner Grossmühle auf der Insel Giudecca zur Station gefahren und will den 18:40-Uhr Zug erreichen, um zu seiner Villa auf dem Festland zu gelangen. Doch zwischen den Säulen lauert ein untersetzter Mann in Arbeiterkluft mit Mordplänen im Kopf.
Stucky tritt in die Halle, da prescht der Mörder hervor. Ohne ein Wort, so erzählt später ein Augenzeuge, geht er auf den Fabrikherrn los und schlitzt ihm mit einem Rasiermesser die Gurgel auf. Der Schnitt ist so gewaltig, dass Halsschlagader und Kehlkopf durchtrennt werden. Venedig verliert seinen Wohltäter.
Der Mörder wird als Giovanni Bruniera identifiziert, genannt «Pätuto», 35 Jahre alt und früher angestellt bei der Mühle Stucky. Er hat schon fünf Jahre zuvor den Patron bedroht und dafür 18 Monate im Gefängnis gesessen. Beim Verhör gibt er wirres Zeug von sich. Die Zeitungen spekulieren, er sei Anarchist, getrieben von subversiven Ideen. Bald wird auch gemunkelt, blond wie Stucky und ebenfalls aus Treviso, sei er dessen unehelicher Sohn. Für die Richter steht bald fest: Bruniera ist geistesgestört und gehört ins Zuchthaus. Das shakespearesche Drama wühlt die Venezianer auf. Stuckys Leichnam wird in seine Stadtresidenz gebracht, Tausende tragen sich ins Kondolenzbuch ein oder schicken Telegramme. Er wird in einer Kirche aufgebahrt und dann in der Familienkapelle auf der Toteninsel beigesetzt. Hunderte geben ihm das letzte Geleit: Delegationen der Stadt, der Industrie, der Arbeiter, Geschäftspartner, Freunde - fast ein Staatsbegräbnis. Stucky hat mit seiner Mühle die Industrialisierung in die Lagune gebracht, im Veneto viel Marschland trockengelegt, die Landwirtschaft modernisiert - und ein Vermögen angehäuft, an dem er viele teilhaben liess. Er war, he isst es in Nachrufen, ein Fabrikherr und Agrarier, der sich verantwortlich fühlte für alle, die von ihm abhängig waren, und für die Stadt, der er seinen Reichtum verdankte. Er war ein Wohltäter und Förderer der Biennale d'Arte, führte den Ehrentitel Cavaliere, und kurz vor seinem Tod war ihm die Goldmedaille für besondere Verdienste verliehen worden.
Der Wandergeselle wird zum Unternehmer
Giovanni Stucky ist keiner jener Pioniere, die aus dem Nichts auftauchen. Er war bestens vorbereitet fürs Unternehmertum. Sein Vater Hans Stucky wurde 1814 in Münsingen BE geboren, in einer alten Familie von Handwerkern und Büchsenmachern. Auf einer Italienreise lernte der Vater die Venezianerin Domenica Forti kennen, die er später heiratete. Um 1830 wanderte er mit Domenica nach Treviso aus, um eine Wassermühle zu errichten. Sie zogen bald ins nahe Venedig, das damals noch österreichisch war. Dort kam am 27. Mai 1843 Giovanni zur Welt. Er wächst in einem anregenden Umfeld auf. Die Mühle in Treviso bietet technischen wie ökonomischen Anschauungsunterricht, verbunden mit einem protestantischen Arbeitsethos. Die Familie ist stolz auf die Schweizer Herkunft, weilt oft in Münsingen, behält das Bürgerrecht wie auch den weiten Horizont der Auswanderer.
Als 15-Jähriger geht Giovanni auf Wanderschaft. Der blonde Jüngling ist redegewandt und kultiviert, gutaussehend und einnehmend. In Wien findet er Arbeit als Mechaniker und erweist sich als tüchtig. Zurück in Venedig, lernt er Techniker und arbeitet in der Maschinenfabrik Neville. Laut einem Schriftstück eines Nachfahren ist er danach bis 22 als Techniker bei einer grossen Firma in der Schweiz tätig. Dann wird er verantwortlich für die Installation neuer Anlagen und bereist Deutschland, Frankreich, Ungarn, die Schweiz und Italien. In den Ferien trifft er in Treviso die Österreicherin Antonietta von Kupferschein. 1867 heiraten die beiden.
Der ambitionierte Stucky baut nun in Treviso eine eigene Mühle auf, bald darauf eine Nudelfabrik. Dann kauft er die einzige dampfbetriebene Mühle Venedigs und eröffnet ein Handelskontor für Getreide. Die Geschäfte laufen gut, und so fasst er einen Plan. In Ungarn hat er eine neue Technik gesehen: Statt das Korn zwischen schweren Mühlsteinen zu mahlen, wird es von zwei rotierenden Zylindern zerrieben. Dies erlaubt, Hartweizenmehl für Pasta und feines Weichweizenmehl für Brot viel effizienter als bisher herzustellen. Venedig ist ideal für eine solche Mühle, denn der Transport über Wasser ist billiger als über Land. Stucky will eine Grossmühle bauen, strategisch gut gelegen, mit Dampfantrieb, Zylindermahlwerken und moderner Organisation - das heisst: Abkehr vom Müllergewerbe und Beginn der Mühlenindustrie.
1880 schlägt Stucky zu: Auf Giudecca, der Südinsel Venedigs, wo Frachtschiffe anlegen können, kauft er das Areal des ehemaligen Konvents SS. Biagio e Cataldo. Er lässt Kloster und Kirche abreissen. Im Frühling 1884 nimmt der «molino a cilindri» die Produktion auf, die modernste Anlage der Zeit mit einer Kapazität von 50 Tonnen täglich. 1887 sind es schon 200 Tonnen, so dass er riesige Silos erstellt.
Baustil abgelehnt - er droht mit Wegzug
1890 siedeln Stuckys mit ihren drei Töchtern und ihrem Sohn auf Giudecca über. Giovanni hat dort den Palazzo Foscari gekauft und aufwendig renoviert. Er ist mit der Mühle das erste Gebäude Venedigs mit elektrischem Licht. Das Geschäft läuft gut; er plant die grosse Expansion. Der Cavaliere will etwas Monumentales, das auch ästhetisch die Bedeutung seines Imperiums ausdrückt. Er beauftragt den hannoverschen Architekten Ernst Wullekopf. Stucky hat die Fabriken und Speicherstädte der deutschen Backsteingotik gesehen - so soll auch seine neue Grossmühle aussehen.
Im März 1895 steht das Projekt, ein neun Stockwerke hoher Ziegel bau mit Turm und Giebeln im hanseatischen Stil. Die Baukornmission winkt ab, denn «das Projekt steht in Dissonanz mit dem Charakter aller venezianischen Fabriken und würde an diesem Ort der Stadt einen unguten Eindruck hervorrufen». Erst als der Mehlmogul mit dem Wegzug und der Entlassung von 187 Arbeitern droht, lenkt die Kommission ein. So wird der Industriekomplex hochgezogen, 1903 kommt eine Pastafabrik hinzu, 1907 weitere Silos. «Die schönste Mühle Italiens», urteilen nun die Zeitungen. Stucky hat die grösste Mühle Europas erbaut, zugleich sein Schloss, Denkmal seines Erfolgs und Symbol des neuen Zeitalters. «Principe dei mugnai», «Fürst der Müller», wird er genannt, als er 1908 die Produktion seinem Sohn Giancarlo übergibt, der an der ETH Zürich Maschinenbau studiert hat. Giovanni selbst behält die Leitung, widmet sich der Kunst und kauft den Palazzo Grassi, eine klassizistische Residenz am Canal Grande, mit der er seinen Status markiert. Das Fest zum 25-Jahr-Jubiläum des Molino 1909 ist ein Society-Ereignis. Der allseits respektierte Industrielle ist im Zenit, als ihn der irre Bruniera aus dem Leben reisst. Nach dem Tod des Patriarchen übernimmt Sohn Giancarlo. 1912, vor dem Ersten Weltkrieg, hat die Mühle ihre beste Zeit. Drei Hektaren nimmt der Komplex ein, beschäftigt 1500 Leute und produziert täglich bis 500 Tonnen Mehl und 30 Tonnen Pasta. Nach dem Krieg jedoch beginnt die Agonie. Auf Betreiben des Conte Vittorio Cini, ein anderer Industrieller, der in der Schweiz Ökonomie studiert hatte, wird nun der Industrie- und Handelshafen Marghera am Festland geplant. In den 1920er Jahren realisieren die Faschisten das Projekt, 1933 eröffnet Mussolini zudem den Strassendamm zum Festland.
Vom Spukschloss zum Luxushotel
Stuckys Molino liegt nun abseits, verliert technologisch den Anschluss, frisst sein Kapital auf und muss in eine Aktiengesellschaft umgewandelt werden. Der Zweite Weltkrieg verschärft die Lage. 1941 nimmt sich Giancarlo Stucky das Leben. Dann beschlagnahmen deutsche Truppen die Mühle. Stuckys verkaufen die Aktienmehrheit und den Palazzo Grassi an Cini - ausgerechnet an den Konkurrenten, der ihren Untergang herbeigeführt hat.
Aber auch Conte Cini wird nicht glücklich mit dem Besitz. Nach dem Krieg wechselt der Palazzo Grassi mehrmals die Hand; heute ist er eine Kunststiftung. Auch der Molino serbelt dahin. Cini versucht eine Sanierung, aber der zu grosse, schlecht gelegene Betrieb bleibt unrentabel. 1955 wird er eingestellt, die letzten 500 Angestellten halten die Fabrik noch sechs Wochen lang besetzt, dann fällt der Vorhang.
Die Anlage zerfiel, Gestrüpp wucherte, die Backsteine zerbröselten; die Mühle wurde zur Spukruine. Viele Venezianer bezeugen, sie hätten Lichtblitze in den Fenstern gesehen: den Geist Beata Giuliana di Collaltos, die einst das Kloster gegründet hatte, das dem Molino hatte weichen müssen.
Jahrzehntelang wusste niemand, was mit der Mühle geschehen soll. 1988 stellte Venedig sie als wichtigstes Industriedenkmal unter Schutz. Schliesslich wurde ein Projekt für ein Luxushotel vorgelegt. 1998 begann die grösste denkmalschützerische Umnutzung, die Venedig je erlebte. Mittendrin brach Feuer aus, das wichtige Teile zerstörte. Weil zwei Brandherde in zwei Gebäuden ermittelt wurden, hiess es bald, hier sei wie beim Teatro La Fenice mit einer «Warmsanierung» nachgeholfen worden. Der Verdacht auf Brandstiftung liess sich jedoch nicht erhärten. Die Stadt verlangte die Rekonstruktion der Fassade; innen entfielen die Auflagen der Denkmalpflege.
2007 wurde das Hilton Molino Stucky eröffnet, Venedigs grösster Hotelkomplex mit 380 Betten, einem 1500-plätzigen Kongresszentrum, Wellness und dem einzigen Dachpool der Lagunenstadt. An Giovanni Stucky erinnert eine Büste im Garten und sein Name, der wie vor 100 Jahren unter der Fabrikuhr am Giebel prangt.