Immer seltener werden Briefe geschrieben, die Korrespondenz wird grösstenteils elektronisch erledigt. Das heisst, es werden immer weniger Briefmarken gebraucht. Stolze Markensammler hoffen allerdings, dass dies nicht das Ende der Philatelie ist. Die Schweizer Post macht ihnen Hoffnung.

Doppelgenf
Die erste Marke aus der Schweiz:
Doppelgenf (Double de Gèneve) von 1843

Goldvreneli
Die 6-Franken-Marke «Goldvreneli»
von 2013 mit 18 karätigem Gold

Frankiert Christian Fiechter einen Brief, dann holt er sich die Briefmarke dazu nicht am Postschalter, er klaubt sie aus einem seiner Briefmarkenalben. Der sportliche Senior vom Zollikerberg klebt 30, 40 oder auch mal 50 Jahre alte, ungestempelte philatelistische Sammlerstücke auf seine Briefe. Er plündere seine Sammlung, weil ihm ein Experte dazu geraten habe. Seine Sammlung, in die er in über sechs Jahrzehnten sicher weit über 50 000 Franken investiert habe, gelte nämlich als «weitgehend wertlos und unverkäuflich». Des Experten Rat: die ungestempelten Marken seiner Sammlung einfach aufbrauchen. Das tut Fiechter jetzt.

Philatelisten, die ab dem Bubenalter Marke um Marke in Alben eingereiht haben und jetzt etwas ratlos auf ihr Werk blicken, gibt es viele. Dank ihnen funktioniert sogar ein postalischer Nischenmarkt: Der Händler Hans Harlacher aus Triboltingen etwa kauft ungestempelte Sammlerstücke auf und verkauft sie einer exklusiven Kundschaft von Nostalgikern und Sparsamen, die damit ihre Post frankiert. Das Geschäft funktioniert, weil Harlacher die Marken ­minim unter dem Frankaturwert absetzt: Wer bejahrte Raritäten verwendet, kommt günstiger weg, als wenn er sich mit neuen Marken eindeckt.

Möglich sind Fiechters Ausweg und ­Harlachers Geschäft, weil in der Schweiz Briefmarken sehr lange gültig bleiben. Die älteste noch gültige Marke stammt aus dem Jahr 1938. Seit 1964 sind in der Schweiz sogar sämtliche Marken unbeschränkt gültig – solange kein Stempel sie ziert. Diese dauerhafte Gültigkeit kontrastiert mit der ­Abnahme der Briefpost. Jahr für Jahr schrumpft ihr Volumen um zwei Prozent. Laut Susanne Ruoff, der Konzernleiterin der Schweizerischen Post, werden Briefe künftig vielleicht nur noch an vier Tagen der ­Woche ausgetragen. Der Samstag könnte zum «brieffreien Tag» werden.

Zum Beispiel Pro Juventute

Weniger Briefe heisst natürlich auch weniger Briefmarken. Dies setzt einer karitativen Spezialität der Schweiz zu: den Wohltätigkeitsmarken, etwa der 1913 erstmals ausgegebenen Pro-Juventute-Marke. Auf diesen Marken wird jeweils ein «Wohlfahrtszuschlag» erhoben, der in die Projekte der Organisation fliesst. Für die Pro Juventute wurde der Ertrag aus dem Verkauf ihrer Zuschlagsmarken zur wichtigen finanziellen Stütze. Und die Schülerinnen und Schüler, die unter dem Motto «Kinder für Kinder» Pro-Juventute-Marken verkauften, gehören zu den typisch schweizerischen Alltagserfahrungen. In Spitzenjahren wurden 45 Millionen Marken abgesetzt. Nun gehen Auflage und Ertrag seit Jahren zurück. Die Erträge von 1982 entsprachen einem heutigen Kaufkraftwert von 13,6 Millionen Franken. 2011 flossen der Pro Juventute aus den Zuschlägen nur noch 2,2 Millionen Franken zu. Laut der Kommunikationsleiterin von Pro Juventute, Marianne Affolter, widerspiegeln die Zahlen, wie grundlegend sich in der Schweiz angesichts von SMS und ­E-Mail die Bedeutung des Briefes verändere. Um die Projekte für Kinder weiterhin zu finanzieren, werde längst schon auch auf neue Einnahmequellen gesetzt: «Spenden, ­Firmenpartnerschaften und Legate sind heute entscheidend.» Die Sammler hingegen dürften den Pro-Juventute-Marken treu bleiben: Sie gelten angesichts ihres oft hohen künstlerischen Werts als beliebte philatelistische Sammelobjekte.

 
Basler Taube
10 Rappen
Chocosuisse
 
Teures Sammelstück: «Basler Taube» von 1845
Fast 1,5 Milliarden wurden seit 1960 von dieser 10-Rappen-Marke ­gedruckt
Die «Chocosuisse» von 2001 riecht nach Schokolade
 
 

 

Der Verein ist überaltert

Allerdings sinkt die Zahl der leidenschaftlichen Freunde der gezähnten Kunstwerke. In vielen Philatelistenklubs sind ältere Herren weitgehend unter sich. Dies müsste Experten wie Christoph Hertsch eigentlich schlaflose Nächte bereiten. Tut es aber nicht. Hertsch, der in vierter Generation die 1905 gegründete Briefmarkenhandlung Zumstein & Cie in Bern führt und die «Philatelisten-Bibel» – den Zumsteinkatalog – herausgibt, ist allen Unkenrufen zum Trotz zuversichtlich. Er gilt als unbestrittene Instanz in der Briefmarkenwelt und er glaubt nicht an deren raschen Niedergang. Er schöpft seine Zuversicht unter anderem aus der Tatsache, dass «Briefmarken das Image des Landes in die Welt hinaustragen». Auf solche «Botschafter» werde die Schweiz so schnell nicht verzichten. Zudem sei die Briefmarke «ein Kulturgut»: «Immer wieder fallen Marken von grossem künstlerischen Wert auf.» Hertsch denkt dabei etwa an die Marken des Künstlers Franz Gertsch. Dieser Meister des grossformatigen Bildes habe im winzigen Format der Briefmarke «Mitreissendes» geschaffen: «Das ist keine Selbstverständlichkeit, denn fürs Gelingen einer Briefmarke genügt es nicht, Sujets einfach zu verkleinern.»

 
Pro Juventute
Roger Federer
 
Pro-Juventute-Marke mit Wohltätigkeitszuschlag von 2013
Auch lebende Stars wie Roger Federer sind als Sujets für Marken beliebt
 
 

Bestseller mit Rekordauflage

Von der 10-Rappen-Dauermarke von 1960 wurden 1,488 Milliarden Stück gedruckt, von der Weihnachtsmarke von 2013 lediglich noch knapp vier Millionen. Setzt der Auflagenschwund der Sammlerlaune nicht zu? Hertsch sagt Nein: «Es ist eher noch interessanter geworden». Zudem entwickelten die Sammler neue Leidenschaften. So wachse das Interesse an Briefdokumenten, «die eine erkennbare Geschichte erzählen». Hertsch verweist auf einen frankierten Umschlag, abgestempelt in Friedrichshafen. Das Besondere: Der Brief weist Brandspuren auf. Er stammt aus den Trümmern des ­Zeppelins LZ 129 «Hindenburg», der am 6. Mai 1937 in Lakehurst (USA) in Flammen aufging: «Sie halten ein echtes Stück Geschichte in Händen.» So werde die Briefmarke zu «einem Stück Weltgeschichte pur».

Des Philatelisten Feind ist die Maschine. Denn, wer heute als Geschäftskunde einen eingeschriebenen Brief verschicke, braucht Marken im Wert von 6 Franken. Für den maschinell frankierten Einschreibebrief stellt die Post aber nur 5 Franken in Rechnung. Hertsch: «Es ist letztlich die Automatisation, die das Kulturgut Briefmarke und dessen Vielfalt bedroht.» Für ihn selber ist es «Ehrensache», nur Marken zu verwenden. Auf seine vielen Einschreibebriefe klebt er deshalb hin und wieder eine Marke, die ihm besonders gefällt: Die kreisrunde, mit 18-karätigem Gold belegte 6-Franken-Marke, die ein Goldvreneli zeigt. Diese 2013 herausgegebene «Goldmarke» ergänzt die Reihe philatelistischer Besonderheiten schweizerischer Provenienz, die auch gestickte Marken (2000), Marken aus Fichtenholz (2004) und nach Schokolade riechende Marken (2001) umfasst.

Gibt es Sammler, gibt‘s auch Marken

Bei der Schweizerischen Post ist die offizielle Antwort auf die Frage zur Zukunft der Briefmarke klar: «Die Briefmarke ist kein Auslaufmodell.» Jedes Jahr würden rund 45 neue Marken herausgegeben. «Daran wird sich in Zukunft nichts ändern», sagt Mediensprecherin Nathalie Dérobert Fellay. Immerhin gebe es in der Schweiz nach wie vor rund 150 000 Sammler. Diese Sammler tragen zum Überleben der Marke bei: Zehntausende haben alle neuerscheinenden Marken abonniert. Der Post flössen dadurch erhebliche Mittel zu, «ohne dass sie dafür einen Transportauftrag erfüllen muss», konstatiert Hertsch. Die Post will das Monetäre nicht in den Vordergrund stellen. Aus ihrer Sicht veredelt die Marke den Brief. «Die Briefmarke wird mitunter als Botschaftsverstärkerin betrachtet», sagt Dérobert Fellay.

Dem pflichtet Hertsch bei: Die Briefmarke mache zuweilen den Unterschied zwischen einer blossen postalischen Zusendung und einer persönlichen Botschaft aus. Briefmarken würden oft sehr sorgfältig ausgewählt. Darauf baut auch die Pro Juventute ihre Hoffnungen. Marianne Affolter: «Es ist immer seltener nötig, Briefe zu senden, um mit Mitmenschen zu korrespondieren. Briefe zu verschicken, kann aber in Zukunft eine schöne, traditionelle Geste sein.» Die veränderte Bedeutung der Briefmarke mag für Sammler wie Christian Fiechter tröstlich sein. Ihre Investition führt nicht zu Gewinn im klassischen Sinn. Die neue Dividende ist das helle Entzücken jener, die in ihrem Briefkasten gezähnte Boten aus der Vergangenheit entdecken.

Zürcher Prepaid-Pioniere

 
 

1840 wurde in England die erste Briefmarke herausgegeben. Die Grundidee war, die Kosten für die Beförderung eines Briefes nicht mehr beim Empfänger, sondern beim Absender einzuziehen. Am 1. März 1843 führte auch der Kanton Zürich dieses «postalische Prepaid-System» ein – als erster «Staat» nach England. Am 30. September 1843 folgte Genf mit einer eigenen Marke, der Double de Genève («Doppelgenf»). Am 1. Juli 1845 konnten die Baslerinnen und Basler für 2 1/2 Rappen die ersten «Basler Tauben» erwerben. Erst 1849 wurde das schweizerische Postwesen gegründet, welches ab 1850 Briefmarken für die ganze Schweiz ausgab. Aus dieser Zeit stammt auch das wertvollste philatelistische Sammlerstück: Der Katalogpreis für die Bundesmarke «­Rayon­ I» von 1851, hellblau mit Kreuzeinfassung, liegt bei 250 000 Franken. (mul)

 

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