gulli:newsletter
Ausgabe 5/2012
Die gulli:Monatsglosse für Mai
Alles neu macht der Mai? Wohl kaum - der Wonnemonat beglückte uns eher mit der üblichen Mischung aus Chaos, Kuriositäten und gepflegten Wahnsinn, den aufmerksame gulli-Leser nur allzu gut kennen. So Mancher glänzte durch Unfähigkeit, manch anderer durch Selbstüberschätzung, eine dritte Gruppe durch Machtgeilheit. Außerdem wurde gedacht, gehackt und gezockt - der Monatsrückblick.
Unter anderem brachte der Mai den jährlichen Bericht der "Reporter ohne Grenzen" zur Pressefreiheit. Wie jedes Mal nennt die Organisation in einer Liste die Gruppen, Regierungen und Personen, die nach Einschätzungen der ROG in ihrer Freizeit am liebsten Jagd auf Journalisten machen. Neu auf der Liste: Kim Jong-Un. Was will man von diesem kleinen Kampfzwerg auch erwarten? Schließlich regiert er das Land mit den sinnlosesten Gesetzen der Welt. Beispielsweise steht in der Verfassung dieser "Demokratie", dass die Regierungspartei der Kim-Jong-Family immer gewinnt. Weiter ist das Besitzen eines Mobilfunktelefons ein Kriegsverbrechen und alle Bürger dürfen sich nicht ohne Erlaubnis aus ihrem Heimatort bewegen. (Dieser Ort wird lustigerweise von der Regierung festgelegt). Außerdem gibt es dort nach wie vor Internierungslager für politische Feinde und erst letztens musste die internationale Presse feststellen, dass auf einer Militärparade präsentierte Interkontinentalraketen einfach nur billige Wellblech-Attrappen waren. (Nordkorea ist ein Land, über das man sich noch nicht einmal in sarkastischer Weise lustig machen muss. Denn alle diese Fakten sind tatsächlich wahr!) – Dass man in Anbetracht dieser Gewohnheiten jedenfalls, ganz nebenbei noch die Presse- und Meinungsfreiheit missachtet, wundert niemanden. Im Übrigen ist Kim Jong-un übrigens nur der Regierungschef dieses Landes. Das eigentliche Staatsoberhaupt heißt Kim II-sung. Der alte Knabe kann durch sein hohes Alter sein Amt jedoch nicht mehr ausüben – genauer gesagt ist er seit 1994 tot. Ein von ihm festgelegtes Gesetz besagt jedoch, dass auch der Tod nichts an seiner Position ändert.
Kurz darauf erreichte uns eine schier unglaubliche Nachricht aus dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Dass die Polizei mitunter Dinge beschlagnahmt, kennen wir ja schon. Dass diese Beschlagnahmungen nicht immer sinnvoll und verhältnismäßig sind, ist auch nicht unbedingt neu. Aber wer bitte hat schon einmal erlebt, dass die Polizei heimlich versucht, beschlagnahmte Hardware wieder zurück zu stellen? Genau das geschah angeblich beim beschlagnahmten Mixmaster-Server des Aktivisten-Kollektivs Riseup. Das Video ist, zum Teil unterlegt mit passender Musik, im Internet zu bewundern. Ob das FBI sich wirklich alle Mühe gibt, Hollywood für die Samstag-Abend-Unterhaltung überflüssig zu machen, oder ob hier einfach jemand der Versuchung erlegen ist, eine gute Geschichte zu erzählen, ist schwer zu beurteilen. Eines aber steht fest: gut ist die Geschichte zweifellos. Ein paar schräge Ideen für die Fortsetzung hätte ich auch schon. In der nächsten Folge könnten wir Polizisten sehen, die einen Festgenommenen bei Nacht und Nebel nach Hause zurück bringen in der Hoffnung, dass die Festnahme keiner bemerkt hat, eine Hundertschaft, die nach der Demo die Verletzungen der Demonstranten sorgfältig verarztet und mit Klamotten und Schminke versteckt oder ein SEK, das nach der Durchsuchung die Wohnung des Verdächtigen mit der Gründlichkeit der perfekt ordentlichen Werbe-Familien wieder aufräumt (was bei denjenigen von uns, bei denen es im Normalzustand meistens so aussieht, als wäre das SEK bereits da gewesen, natürlich auch schon wieder verdächtig wäre). Wir sind gespannt.
Daneben bietet der Monat Mai immer auch Anlass zur Erinnerung an die Vergangenheit. Das jedoch ist gar nicht so einfach, wies die Mitglieder der Österreichischen Burschenschaft "Wiener Korporationsring" (WKR) feststellen mussten: Wer versuchte, die "Heimseite" der Vereinigung zu besuchen, wurde von einer ganzen Parade lustiger Ponies samt Darth-Vader-Cape, Mariomucke und Bunkersong begrüßt. Hätte den WKR vorher irgendwer ernst genommen - was angesichts des Brauchtums und der Uniformen sowie der politischen Ansichten dieser Gruppe eher unwahrscheinlich ist - wäre es damit wohl nach dem geballten Pony-Aufkommen sowie der nur allzu deutlich unter Beweis gestellten Inkompetenz des Webmasters endgültig vorbei gewesen. Dabei wollten die Burschis doch nur, statt wie der Rest der zivilisierten Welt den Tag der Befreiung von den allseits bekannten Weltherrschafts-Versuchen des Herrn A.H. aus B. zu feiern, ein "Totengedenken" - ausgerechnet auf dem "Heldenplatz" übrigens - abhalten und sich dabei so richtig schön im Pathos üben. Nicht, dass wir uns falsch verstehen - im Zweiten Weltkrieg sind sehr viele Menschen gestorben, darunter auch viele Unschuldige, und derer darf auch gerne gedacht werden. Aber darum geht es im konkreten Fall nicht. Erstens besteht der begründete Verdacht, dass es dem WKR nicht nur um die Unschuldigen geht, und zweitens steht schon in der Bibel "ein jedes hat seine Zeit". Ausgerechnet ein Datum auszusuchen, an dem es nun wirklich mehr als genug Grund zum Feiern gibt, und dieses für eine derartige Veranstaltung zu nehmen, wirkt zumindest merkwürdig. Ausgeführt von einer Gruppe, deren rechte Tendenzen schon die Spatzen von den - übrigens sehr hübschen - Wiener Dächern pfeifen, passt es in etwa so gut in eine aufgeklärte und tolerante Gesellschaft wie eine Darth-Vader-Rüstung zu einem großäugigen rosa Pony. Also, Burschis - mehr Glück im nächsten Jahr, aber nur, falls ihr bis dahin mal ein bisschen Nachhilfe in Geschichte, Ethik und Politik genommen habt, statt euch die ganze Zeit mit irgendwelchen komischen Zahnstochern zu verhauen und dem ritualisierten Alkoholismus zu frönen.
Ein Händchen für sympathische Talkshow-Gäste bewies kurz darauf wieder einmal Julian Assange. Nach einem irren Israel-Hasser, einem Stalin-Fan und einem (erz-)konservativen Zionisten lud er für Folge vier seiner Sendung "The World Tomorrow" zur Abwechslung mal einen mutmaßlichen Al-Qaida-Terroristen ein, der mit ihm darüber philosophierte, ob die Muslime sich zu einem "Super-Staat" vereinigen. Eigentlich hat diese Show den falschen Titel - von einer Sendung, die über "die Welt von morgen" informiert, erhoffe ich mir Anstöße, wie wir die Grenzen von Staaten - seien sie super oder nicht - hinter uns lassen, und nicht irgendwelche wilden Ideen über islamische Super-Staaten, die wahrscheinlich bloß diejenigen freuen, die eh hinter jeder Moschee den Untergang des Abendlandes vermuten. Das, was Assange abbildet, ist eher die grenzenlose Verrücktheit der Welt von heute als eine positive Vision für morgen. Hoffe ich zumindest. Ich mag ja dystopische Science-Fiction durchaus gerne, aber Protagonistin in einer Zukunft mit Nahost-Eskalation, Stalin-Zombies und einem muslimischen Super-Staat möchte ich dann doch nicht sein. Wobei die Idee als Plot für den nächsten NaNoWriMo durchaus Potential hätte. Vielleicht sollte man zur Abrundung noch ein paar Weltraum-Nazis einbauen.
Viele Gamer beschäftigte im Monat Mai vor allem Blizzards Action-Rollenspiel Diablo 3. Dort die Welt zu retten, erfordert jedoch offenbar einiges an Geduld. Zwar meldeten einige Gamer, sie hätten das Spiel selbst im Inferno-Schwierigkeitsgrad bereits durchgespielt. Das hat jedoch nichts mit "ich habe mich durch das ganze Spiel gekämpft, Quests gemacht und dann den Endgegner besiegt" zu tun, sondern eher mit "ich bin an fast allen interessanten Teilen des Spiels vorbei gerannt und dabei so oft gestorben, dass mein Charakter eigentlich ein rotes Hemd hätte tragen müssen, habe dann mit letzter Kraft Diablo erreicht und er hat sich bei meinem Anblick tot gelacht". Vor der sportlichen Leistung der betreffenden Spieler muss man natürlich trotzdem Respekt haben, aber der Inferno-Schwierigkeitsgrad ist damit noch lange nicht als "gemeistert" zu betrachten. Das ist in etwa so wie in den 1960er Jahren, wo es hieß, wir Menschen hätten "den Weltraum erobert", weil wir ein paar Mal im Orbit unseres eigenen Planeten herumgedüst sind und eine Flagge auf den Mond gestellt haben. Letzteres schützt uns aber vermutlich zuverlässig vor Alien-Kontakten - wer in solchen Momenten nichts besseres zu tun hat, als eine Flagge - noch dazu nur eines kleinen, willkürlich geographisch abgegrenzten Teils der Menschheit - aufzustellen, ist für intergalaktische Abenteuer höchstwahrscheinlich zu primitiv und uninteressant.
Auch sonst sorgte Diablo 3 für Diskussionsstoff. Neben der Frage, wieso man ein derartiges Spiel ausgerechnet zu einer Jahreszeit herausbringt, zu der ein längerer freiwilliger Aufenthalt in geschlossenen Räumen in etwa so attraktiv erscheint wie ein Date mit je nach sexueller Präferenz Andariel oder Griswold, waren es unter anderem die anhaltenden technischen Probleme des Spiels, die uns nicht losließen. Offenbar funktionieren Server, Balancing und Grafik derzeit noch mit der Zuverlässigkeit der aus "Armageddon" bekannten taiwanesischen Technik - nur, dass man nicht an die Server herankommt, um dagegen zu treten. Daneben gibt es natürlich auch die ersten Zocker, die - nach monatelangen Diskussionen, Diablo 3 werde so verdammt casual, dass dagegen "Wendys Abenteuer auf dem Reiterhof" wie der Gipfel der Herausforderung erscheine - heulen, weil sie nach knapp zwei Wochen Spielzeit auf Inferno sterben. Diesen Spielern möchte man die Browsergame-Veteranen wohlbekannte OGame-Taschentuchfabrik in einer Diablo-3-Sonderedition anbieten: "Hilft bei unfairen Gegnern, gestorbenen Charakteren und Fehler 37".
Wenig Ahnung von Marketing bewies wieder einmal die Whistleblowing-Plattform WikiLeaks. Neueste Idee der Aktivisten: "12 Gründe, warum Friends of WikiLeaks besser ist als Facebook". Angesichts der völlig unterschiedlichen Zielsetzung, Zielgruppe und technischen Struktur des Netzwerks ist das in etwa so sinnvoll wie "12 Gründe, warum ein Eisbecher besser ist als ein Becher heißer Kaffee". Davon abgesehen scheint "WL Friends", wie das Netzwerk in der Kurzform heißt, aber durchaus interessant zu werden. Ob die vollmundig angepriesenen Sicherheitsmaßnahmen halten, was sie versprechen, muss man allerdings noch sehen (und testen). Wenn es demnächst heißt "Die gulli-Glosse: The Guantanamo Diaries" gab es wohl doch Implementierungs-Schwächen bei der verwendeten Kryptographie.
Um Kryptographie ging es auch beim Antwortschreiben der Bundesregierung zum Thema E-Mail-Überwachung. Insbesondere die Diskussion zum Thema "PGP-verschüsselte E-Mails" bewegte die Gemüter. Um den Hergang des Ganzen auch für Nicht-Krypto-Nerds einmal transparent zu machen hier einmal eine aus dem Alltag gegriffene Übertragung, wie das Ganze ablief (ich liebe sowas ja - einer der besten Vorträge, die ich auf Hacker-Events bislang gehört habe, erklärte Teilchenbeschleuniger anhand von Enten und Ruderbooten). Also: Die beteiligten Politiker der Linksfraktion hatten angefragt, ob die Bundesregierung auch "verschlüsselte E-Mails, etwa mit Hilfe von Diensten wie PGP oder SSL" knacken könnten. Sagen wir, die Frage hätte gelautet "könnt ihr auch aktuelle Computerspiele, wie etwa Diablo 3 und Dota 2, auf internationalem Progamer-Niveau zocken". Dann war die Antwort darauf in etwa "je nach Art und Schwierigkeitsgrad des Spiels grundsätzlich ja". Das kann jetzt natürlich alles heißen - "ja, wir zocken Diablo 3 auf höchstem Schwierigkeitsgrad durch und besiegen Na'Vi in Dota", "wir können Diablo 3 auf normal durchspielen", "na ja, eigentlich nur Lego Harry Potter, aber das ist ja auch ein aktuelles Computerspiel" oder "ja, aber nur, weil uns jemand vom Entwicklerstudio die Cheatcodes gegeben hat" - ist aber mit Absicht ein bisschen so formuliert wie "Phear our mad gam0r sk1llz". Aber weil der Durchschnitts-Journalist anscheinend in etwa soviel Ahnung von Krypto hat wie der Durchschnitts-Politiker, wurde daraus in der Berichterstattung "Bundesregierung kann Diablo 3 auf Inferno durchspielen". Entsprechende Screenshots werden natürlich aus Gründen der nationalen Sicherheit zurückgehalten.
Nationale Unsicherheit verspüren dagegen derzeit die Nutzer des VPN-Anbieters Perfect Privacy. Dieser soll angeblich von Rechtsradikalen betrieben werden. Da allerdings noch niemand beim Log-In mit "Sieg Heil" begrüßt wurde - die Server heißen noch nicht einmal, wie unlängst im österreichischen Peinlichkeiten-Kabinett rund um "The_Dude", wie germanische Gottheiten - ist das derzeit noch Spekulation. Sind sie, oder sind sie nicht? Wir werden auf jeden Fall dran bleiben.
Mit diesem Versprechen verabschiede ich mich von euch. Macht es gut, bis nächsten Monat. Genießt den gepflegten Wahnsinn.
Annika Kremer am 05. Juni 2012