Kapitel 11

Der pharisäische Phönix

Nun ereignete sich wiederum eines jener Paradoxe, an denen die Geschichte Zions so reich ist: Die Katastrophe, die wenige Jahrzehnte nach Jesu Tod über Judäa hereinbrach, bedeutete zugleich einen Triumph der Pharisäer, die fortan die unangefochtete Herrschaft über die Juden ausübten. Durch die Kreuzigung Jesu hatten sie sich eines „Propheten und Träumers von Träumen“ entledigt, der das Gesetz in den Staub zu werfen drohte. Während der kurzen Frist, die Judäa noch beschieden war, schalteten sie sämtliche anderen Parteien, die mit ihnen um die Macht unter diesem Gesetz gewetteifert hatten, gnadenlos aus.

Wie die Jewish Encyclopedia berichtet, fanden die Pharisäer nach dem Tode Jesu in Agrippa I., dem letzten judäischen König aus dem Geschlecht des Herodes, einen „Unterstützer und Freund“. Agrippa half ihnen bei der Ausmerzung der Sadduzäer, die von der Bühne verschwanden, so dass den Pharisäern die gesamte Macht zufiel. Wie einst die Leviten nach der Trennung Judas von Israel konnten sie in Jerusalem fortan schalten und walten, wie es ihnen beliebte, und wie damals folgte die Katastrophe auf dem Fuss. Doch wie weiland die Leviten erhoben sich auch die Pharisäer schon bald phönixgleich aus der Asche, so dass sich die Geschichte wiederholte.

Vor diesen Geschehnissen, während der letzten Jahre, die der kleinen und innerlich zerrissenen Provinz noch vergönnt waren, revidierten die Pharisäer das Gesetz – das „Menschengebot“, wie es Jesus abfällig genannt hatte – ein weiteres Mal. Dr. Kastein bemerkt hierzu: „Das jüdische Leben wurde durch die Lehren der Pharisäer geregelt; die ganze Geschichte Judas wurde von pharisäischem Standpunkt aus rekonstruiert... Das Pharisäertum formte den Charakter des Judentums sowie das Leben und Denken der Juden für alle Zeiten... Es macht den ‚Separatismus' zu seinem Hauptmerkmal.“

In anderen Worten: Unmittelbar nach Jesus, der das „Menschengebot“ scharf gegeisselt hatte, verstärkten die Pharisäer wie vor ihnen die Leviten den rassischen und stammesmässigen Charakter sowie die Härte des Gesetzes noch weiter; am Vorabend der endgültigen Zerstreuung der Judäer unter die Völker wurde das Credo der Zerstörung, Versklavung und Unterjochung also abermals verschärft.

Dr. Kasteins Worte sind von besonderem Interesse. Wie bereits erwähnt, hatte er früher geschrieben, nach dem „neuen Bund“, den Nehemia den Judäern aufnötigte, sei die Torah „ein letztes Mal überarbeitet“ worden, und seither habe man „kein Wort“ daran geändert. Ausserdem gilt es der Tatsache Rechnung zu tragen, dass das Alte Testament bereits ins Griechische übersetzt war, als die Pharisäer ihre letzten Retouchen daran vornahmen, so dass sich diese ausschliesslich auf das hebräische Original beziehen konnten. Unter diesen Umständen besteht Grund zur Annahme, dass Dr. Kastein an den Talmud gedacht hat, jene riesenhafte Fortsetzung der Torah, die anscheinend in den letzten Jahren Judäas in Angriff genommen wurde, auch wenn man sie erst viel später schriftlich niederlegte. Wie dem auch sei, das „Leben und Denken“ der Juden wurde „für alle Zeit“ geprägt, und der „Separatismus“ war das oberste Prinzip des Gesetzes.

Im Jahre 70, rund dreieinhalb Jahrzehnte nach dem Tode Jesu, fiel alles in Trümmer. Das nicht enden wollende Chaos und die permanenten Unruhen in Judäa hatten dazu geführt, dass den Römern der Geduldsfaden riss.

Die Pharisäer, die früher eine römische Intervention provoziert hatten und unter der römischen Besatzung die eigentlichen Herren des Landes gewesen waren, verhielten sich passiv.

Die anderen Völker Palästinas, insbesondere die Galiläer, hatten sich nicht unter das römische Joch beugen wollen und Aufstände angezettelt, bis Rom seine Legionen ausschwärmen und Jerusalem dem Erdboden gleichmachen liess. Judäa wurde zum eroberten Territorium erklärt, und sein Name verschwand von der Landkarte. Viele Jahrhunderte lang lebten in Jerusalem überhaupt keine Juden; das einzige Volk, das seit alttestamentarischer Zeit ununterbrochen in Palästina ansässig ist und von dem zumindest ein kleiner Teil sämtliche Verfolgungen überlebt hat, sind die Samariter.

Dr. Kastein nennt jene siebzig Jahre, die mit der Zerstörung Jerusalem durch die Römer endeten, das „heroische Zeitalter“, vermutlich weil die Pharisäer während dieser Epoche als Sieger aus dem Ringen um die Seele des Judentums hervorgegangen sind. Auf den Widerstandskampf gegen die römische Besatzungsmacht kann sich das Wort „heroisch“ schwerlich beziehen, denn dieser Kampf wurde in erster Linie von den nichtjüdischen Galiläern ausgefochten, von denen Dr. Kastein ausgesprochen wenig hält.


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