West-Point Studie von 2007 ergab: Die Region Benghasi-Darnah-Tobruk ist weltweit führend im Rekrutieren von Al-Kaida-Selbstmordattentätern.
In der Resolution 1973 des UN-Sicherheitsrats wird der militärische Angriff auf Libyen mit dem Schutz der Zivilbevölkerung gerechtfertigt. US-Präsident Obama, Englands Premierminister Cameron, Frankreichs Präsident Sarkozy und andere Staatschefs betonen den humanitären Charakter der Intervention, durch die ein Massaker des Gaddafi-Regimes an den Verfechtern von Demokratie und Menschenrechten verhindert werden solle.
Derweil zeigen sich manche Kommentatoren besorgt über die Geheimnisse, welche die Anti-Gaddafi-Übergangsregierung umgeben, die sich Anfang März in der libyschen Stadt Bengasi im nordöstlichen Bezirk Cyrenaika des Landes formiert hat. Frankreich und Portugal erkennen diese Regierung bereits als alleinigen legitimen Repräsentanten des libyschen Volkes an. So, wie es aussieht, setzt sich der Rebellen-Rat aus gut 30 Delegierten zusammen, über die jedoch in den meisten Fällen nichts bekannt ist. Die Namen von über einem Dutzend Mitgliedern des Rebellen-Rats bleiben geheim – angeblich, um sie vor Vergeltungsmaßnahmen durch Gaddafi zu schützen, doch es könnte auch andere Gründe dafür geben, dass sie anonym bleiben. Ungeachtet großer Ungewissheit sind die Vereinten Nationen und wichtige NATO-Länder, darunter auch die USA, vorgeprescht, um den bewaffneten Streitkräften dieses Rebellen-Regimes mit Luftschlägen zu Hilfe zu eilen. Schon jetzt haben die Streitkräfte der Koalition ein oder zwei Kampfflugzeuge verloren. Und es drohen weitere Verluste, besonders in dem Fall, dass es zu einer Invasion kommen sollte. Es ist daher höchste Zeit, dass die Öffentlichkeit in den USA und in Europa mehr über dieses Rebellen-Regime erfährt, das angeblich eine demokratische und humanitäre Alternative zu Gaddafi darstellt.
Eindeutig handelt es sich bei den Rebellen nicht um Zivilisten, sondern um eine bewaffnete Streitmacht – nur: welche Art bewaffneter Streitmacht? Da sich aus der Distanz Recherchen über einige der Rebellenführer nur sehr schwer durchführen lassen und sich auch vor Ort in einer Kriegssituation kein soziologisches Profil erstellen lässt, scheint es vielleicht geraten, auf die Methoden der Sozialgeschichte zurückzugreifen. Kann man sich irgendwie bessere Einsichten in das Meinungsklima verschaffen, das in Städten wie Benghasi, Tobruk und Darnah – den Zentren der Rebellion im Nordosten Libyens – herrscht?
Tatsächlich ist dies möglich, und zwar mithilfe einer Studie der US-Militärakademie West Point vom Dezember 2007, in welcher der Hintergrund ausländischer Guerillakrieger – Jihadisten oder Mujahedin, darunter auch Selbstmordattentäter – untersucht wird, die in den Jahren 2006 und 2007 als Kämpfer der internationalen Terror-Organisation Al-Kaida über Syrien in den Irak eingesickert sind. Die Studie beruht auf den Personalakten von rund 600 Al-Kaida-Mitgliedern, die im Herbst 2007 nahe der nordirakischen Stadt Sinjah amerikanischen Soldaten in die Hände fielen und anschließend in West Point ausgewertet wurden. Bevor wir uns der dabei verwendeten Methode widmen, sollen zunächst die wichtigsten Ergebnisse beschrieben werden. Die entstandene Studie(1) vermittelt wichtige Erkenntnisse über Mentalität und Glaubensstruktur der Bevölkerung in Nordlibyen, welche der Rebellion zugrunde liegen; sie erlaubt somit wichtige Rückschlüsse auf die politische Natur der Anti-Gaddafi-Rebellion in diesen Gebieten.
Darnah, Nordost-Libyen: Welthauptstadt der Jihadisten
Frappierend ist die Erkenntnis der West-Point-Studie, dass der Korridor von Benghasi bis Tobruk, in dem auch die Stadt Darnah liegt, eine der weltweit größten Konzentrationen von Jihad-Terroristen darstellt. Man kann das Gebiet mit einigem Recht als wichtigste Quelle von Selbstmordattentätern überhaupt betrachten. Angesichts der Rate von einem Selbstmordattentäter pro 1.000 bis 1.500 Einwohnern – Attentätern, die in den Irak geschickt werden, um dort US-Soldaten zu töten, erscheint Darnah wie ein Selbstmordattentäter-Paradies, das den Nächstplatzierten, nämlich Riad in Saudi-Arabien, bei Weitem in den Schatten stellt.
Joseph Felter und Brian Fishman, die Autoren der West-Point-Studie, haben ermittelt, dass Saudi-Arabien bei der absoluten Zahl von Jihadisten, die in den Kampf gegen Soldaten der USA und der Koalition im Irak geschickt wurden, im besagten Zeitraum an erster Stelle rangierte. An zweiter Stelle folgte Libyen – dessen Bevölkerung nur etwa ein Viertel der Saudi-Arabiens beträgt. Aus Saudi-Arabien kamen 41 Prozent der Kämpfer. Laut Felter und Fishman wurde »Libyen als Herkunftsland am zweithäufigsten genannt; 18,8 Prozent (112) der Kämpfer gaben Libyen als Nationalität an.« Andere, weit größere Länder, lagen weit dahinter: »Syrien, Jemen und Algerien waren die nächsthäufigsten Herkunftsländer mit 8,2 Prozent (49) bzw. 8,1 Prozent (48) und 7,2 Prozent (43). 6,1 Prozent (36) stammten aus Marokko und 1,9 Prozent (11) aus Jordanien.«(2)
Das bedeutet: Fast ein Fünftel der ausländischen Kämpfer, die über die syrische Grenze in den Irak gelangten, kamen aus Libyen, einem Land mit kaum mehr als sechs Millionen Einwohnern. Anteilsmäßig waren in Libyen mehr Menschen an einem Kampfeinsatz im Irak interessiert als in irgendeinem anderen Land, das Mujahedin entsandte. Felter und Fishman betonen: »Fast 19 Prozent der Kämpfer in den Sinjar-Akten kamen allein aus Libyen. Weiterhin stellte Libyen pro Kopf der Bevölkerung mehr Kämpfer als irgendein anderes in den Sinjar-Akten genanntes Land, Saudi-Arabien eingeschlossen.« (Siehe Diagramm auf Seite 9 des West-Point-Berichts)(3)
Da in den Personalakten der Al-Kaida die Wohn- oder Heimatorte der betreffenden ausländischen Kämpfer vermerkt sind, lässt sich zeigen, dass sich die Bereitschaft, in den Irak zu fahren, um dort Amerikaner zu töten, nicht gleichmäßig auf ganz Libyen verteilte, sondern im Gebiet um Benghasi konzentriert war – genau in der Region also, die heute das Epizentrum der Revolte gegen Oberst Gaddafi darstellt, die von den USA, Großbritannien, Frankreich und anderen so eifrig unterstützt wird.
In einem kürzlich in der Asia Tribune erschienenen Kommentar über die West-Point-Studie schreibt Daya Gamage: »Für westliche Politiker ist alarmierend, dass die meisten Kämpfer aus Ost-Libyen stammten, dem Zentrum des heutigen Aufstands gegen Muammar al-Gaddafi. Nach Angaben der West-Point-Studie kamen aus der ostlibyschen Stadt Darnah mehr Kämpfer in den Irak als aus irgendeiner anderen Stadt oder Gemeinde; 52 Kämpfer kamen danach aus Darnah, einer Stadt mit gerade einmal 80.000 Einwohnern (Die zweitgrößte Quelle von Kämpfern war Riad in Saudi-Arabien, eine Vier-Millionen-Stadt). Aus Benghasi, dem Sitz der von den Anti-Gaddafi-Rebellen ausgerufenen libyschen Übergangsregierung, kamen 21 Kämpfer, ebenfalls eine im Vergleich zur Bevölkerung unverhältnismäßig hohe Zahl.«(4) Der kaum bekannte Ort Darnah verdrängte demnach die Metropole Riad mit 52 zu 51 Kämpfern auf den zweiten Platz. Gaddafis Hochburg Tripolis taucht hingegen in der Statistik so gut wie gar nicht auf. (Siehe die Grafik auf S. 12 der West-Point-Studie)
Wie lässt sich diese ungewöhnliche Konzentration von antiamerikanischen Kämpfern in Benghasi und Darnah erklären? Die Ursache ist wohl in den zahlreichen extremistischen theologischen und politischen Schulen in dieser Region zu suchen. In der West-Point-Studie heißt es: »Sowohl Darnah als auch Benghasi werden seit Langem mit islamistischer Militanz in Libyen in Verbindung gebracht.« Zusätzlich zur politischen Gegnerschaft besteht zwischen diesen Gebieten und der Zentralregierung von Oberst Gaddafi sowohl ein theologischer Dissens als auch ein Stammeskonflikt. Ist ein solcher theologischer Konflikt den Tod weiterer amerikanischer und europäischer Soldaten wert? Diese Frage harrt dringend einer Antwort.
Felter und Fishman merken an: »Die große Mehrheit der libyschen Kämpfer, die in den Sinjar-Akten Angaben über ihre Heimatorte machten, war im Nordosten des Landes ansässig, besonders in den Küstenstädten Darnah mit 60,2 Prozent (52) und Benghasi mit 23,9 Prozent (21). Seit Langem werden Darnah und Benghasi mit islamischer Militanz in Libyen in Verbindung gebracht, insbesondere mit einem Aufstand islamistischer Organisationen Mitte der 1990er Jahre. Damals machte die libysche Regierung neben »Eindringlingen aus dem Sudan und Ägypten« auch die Libysche Kampfgruppe (Libyan Fighting Group, jama-ah al-libiyah al-muqatilah) verantwortlich, eine Gruppe, der nach eigenen Angaben auch afghanische Veteranen angehörten. Die Aufstände in Libyen waren ungewöhnlich gewalttätig.«(5)
Nordost-Libyen: Höchste Dichte an Selbstmordattentätern
Eine weitere Besonderheit des libyschen Beitrags zum Kampf gegen die US-Streitkräfte im Irak besteht in der auffälligen Bereitschaft der Kämpfer aus Nordost-Libyen, sich als Selbstmordattentäter zur Verfügung zu stellen. In der West-Point-Studie heißt es: »Von den 112 libyschen Staatsangehörigen in den Unterlagen machten 54,4 Porzent (61) Angaben zu ihrer ›Tätigkeit‹. Nicht weniger als 82,5 Prozent (51) dieser libyschen Kämpfer gaben ihre Tätigkeit im Irak mit ›Selbstmordattentäter‹ an.«(6) Kämpfer aus Nordost-Libyen wurden somit weitaus häufiger als Kämpfer aus anderen Ländern unter der Rubrik Selbstmordattentäter geführt: »Libysche Kämpfer wurden weit häufiger als Kämpfer anderer Nationalitäten als Selbstmordattentäter geführt (85 Prozent bei den Libyern, 56 Prozent bei allen anderen).«(7)
2007: Die Gaddafi-feindliche Libysche Islamische Kampfgruppe (LIFG) schließt sich mit Al-Kaida zusammen
Dass in Nordost-Libyen derart viele Guerillakämpfer rekrutiert werden konnten, hängt mit einer Organisation zusammen, die sich früher Libysche Islamische Kampfgruppe (Libyan Islamic Fighting Group, LIFG) nannte. Im Laufe des Jahres 2007 erklärte sich die LIFG zur offiziellen Unterorganisation von Al-Kaida; später nahm sie den Namen Al-Kaida im Islamischen Maghreb (Al Qaeda in the Islamic Maghreb, AQIM) an. Infolge dieser Vereinigung kamen ab 2007 mehr Guerillakämpfer aus Libyen in den Irak. Laut Felter und Fishman hing »der erkennbare Anstieg der libyschen Rekruten, die in den Irak reisten, möglicherweise mit der zunehmenden Kooperation der Libyschen Islamischen Kampfgruppe (LIFG) mit Al-Kaida zusammen, die schließlich dazu führte, dass sich die LIFG am 3. November 2007 offiziell der Al-Kaida anschloss.«(8) Diese Vereinigung wird auch von anderen Quellen bestätigt: In einer Ayman al-Zawahiri zugeschriebenen Erklärung von 2008 heißt es, die Libysche Islamische Kampfgruppe sei der Al-Kaida beigetreten.(9)
Terroristischer »Emir« preist Schlüsselrolle von Bengasi und Darnah für Al-Kaida
Die West-Point-Studie macht deutlich, dass die Städte Bengasi und Darnah die Hochburgen der LIFG und der späteren AQIM waren. Dies geht aus einer Erklärung von Abu Layth al-Libi, dem selbsternannten »Emir« der LIFG, hervor, der später zu einem führenden Al-Kaida-Vertreter wurde. Zum Zeitpunkt des Zusammenschlusses im Jahr 2007 »betonte Abu Layth al-Libi, der Emir der LIFG, bei der Bekanntgabe des Beitritts der LIFG zu Al-Kaida die Bedeutung von Bengasi und Darnah für die libyschen Jihadisten mit den Worten: ›Durch die Gnade Gottes hissen wir unter der Führung der Libyschen Islamischen Kampfgruppe die Fahne des Jihad gegen das ungläubige Regime; der LIFG, die die besten ihrer Söhne und Kommandeure im Kampf gegen dieses Regime geopfert hat, deren Blut in den Bergen von Darnah, den Straßen von Benghasi, den Außenbezirken von Tripolis, in der Wüste von Sabah im Sand der Strände vergossen wurde.‹«(10)
Der Zusammenschluss von 2007 hatte zur Folge, dass die libyschen Rekruten für Al-Kaida für die Aktivitäten dieser Organisation insgesamt zunehmend wichtiger wurden, wodurch sich der Schwerpunkt weg von den Saudis und Ägyptern, die bis dahin an vorderster Front gestanden hatten, verlagerte. Felter und Fishman kommentieren: »Libysche Fraktionen (vor allem die Libysche Islamische Kampfgruppe) werden in der Al-Kaida immer wichtiger. Die Sinjar-Akten liefern Belege dafür, dass ab Mai 2007 verstärkt Libyer in den Irak kamen. Der größte Teil der libyschen Rekruten kam aus Städten in Nordost-Libyen, einem Gebiet, das seit Langem für seine Jihad-Militanz bekannt ist.«(11)
Abschließend werden in der West-Point-Studie vom Dezember 2007 einige politische Optionen für die US-Regierung formuliert. Nach Ansicht der Autoren bestünde eine Möglichkeit darin, dass die Vereinigten Staaten gemeinsam mit bestehenden arabischen Regierungen gegen die Terroristen vorgingen. Felter und Fishman schreiben: »Die Regierungen von Syrien und Libyen teilen die Besorgnis der Vereinigten Staaten über die radikale salafitisch-jihadistische Ideologie und die von deren Anhängern ausgeübte Gewalt. Genauso wie andere Regierungen im Nahen und Mittleren Osten fürchten die genannten Regierungen Gewalt innerhalb ihrer eigenen Grenzen; sie ziehen es deshalb vor, dass radikale Elemente in den Irak abwandern, anstatt im eigenen Land Unruhe zu stiften. Den Bemühungen der USA und der Koalition, den Strom der Kämpfer in den Irak einzudämmen, wäre weit mehr Erfolg beschieden, wenn bei der Logistik hinter den Bewegungen dieser einzelnen Kämpfer angesetzt würde – angefangen in ihren Heimatländern – und nicht erst in dem Moment, wo sie die syrische Grenze passieren. Die USA könnten bei der Eindämmung des Flusses von Kämpfern in den Irak auf mehr Zusammenarbeit von Seiten der Regierungen zählen, wenn sie sich deren Besorgnis über jihadistische Gewalt in ihren Ländern zu eigen machten.«(12) Angesichts der späteren Entwicklungen ist mit Sicherheit davon auszugehen, dass diese Option nicht gewählt wurde, weder in den letzten Jahren der Regierung Bush, noch während der ersten zwei Jahre der Obama-Regierung.
Die West-Point-Studie bietet noch eine weitere, weit bedrohlichere Perspektive. Felter und Fishman deuten an, dass sich die ehemaligen LIFG-Kräfte der Al-Kaida möglicherweise gegen Oberst Gaddafi in Libyen einsetzen ließen – im Wesentlichen die Bildung einer De-facto-Allianz zwischen den Vereinigten Staaten und einem Teil der Terrororganisation. Im West-Point-Bericht heißt es: »Der Zusammenschluss der Libyschen Islamischen Kampfgruppe mit Al-Kaida und die offenkundige Entscheidung, der logistischen Unterstützung für den Islamischen Staat Irak den Vorrang einzuräumen, ist mit einiger Sicherheit innerhalb der Organisation umstritten. Es ist anzunehmen, dass einige Fraktionen der LIFG den Kampf gegen das libysche Regime noch immer als wichtiger betrachten als den Kampf im Irak. Möglicherweise ließen sich Spaltungen innerhalb der LIFG sowie zwischen der Führung der LIFG und der traditionellen ägyptischen und saudischen Machtbasis der Al-Kaida verstärken.«(13) Dies ist ein Hinweis auf die US-Politik, die wir heute beobachten: das Verbünden mit den reaktionären Al-Kaida-Fanatikern in Libyen gegen den in der Nasser-Tradition stehenden Modernisierer Gaddafi.
Die Rebellen bewaffnen: Die Erfahrung aus Afghanistan
Ein Blick zurück auf die tragische Lektion aus den Bemühungen der USA, die Bevölkerung von Afghanistan in der Zeit nach 1979 gegen die sowjetische Besetzung aufzuwiegeln, offenbart, dass die Politik des Weißen Hauses unter Präsident Reagan, die afghanischen Mujahedin mit Stinger-Raketen und anderen modernen Waffen zu versorgen, für die Vereinigten Staaten verhängnisvoll gewesen ist. Diesbezüglich kommt der heutige Verteidigungsminister Robert Gates in seinen Memoiren dem Eingeständnis sehr nahe, dass die Al-Kaida damals von den Vereinigten Staaten gegründet wurde als eine Art Arabische Legion gegen die Anwesenheit der Sowjets – mit genau den langfristigen Folgen, die man so lautstark beklagt.
Heute ist klar, dass die USA den libyschen Rebellen über Saudi-Arabien und auf dem Weg über die ägyptische Grenze Waffen liefern, und zwar mit tatkräftiger Unterstützung der ägyptischen Armee und der neu eingesetzten proamerikanischen Militärjunta in Ägypten.(14) Dies stellt einen klaren Verstoß gegen Resolution 1973 des UN-Sicherheitsrats dar, in der ein vollständiges Waffenembargo gegen Libyen gefordert wird. Man kann davon ausgehen, dass diese Waffen in den nächsten Wochen gegen Gaddafi eingesetzt werden. Doch angesichts der antiamerikanischen Haltung der Bevölkerung Nordost-Libyens, die jetzt bewaffnet wird, ist nicht auszuschließen, dass diese Waffen schon bald gegen die gerichtet werden, die sie geliefert haben.
Ein größeres Problem bedeutet das Verhalten einer zukünftigen libyschen Regierung, die von dem gegenwärtigen Rebellen-Rat mit seiner breiten Mehrheit von Islamisten aus dem Nordosten gebildet wird, oder einer ähnlichen Regierung eines zukünftigen Rumpfstaats Cyrenaika. In dem Maße, wie solche Regimes Zugang zu Einnahmen aus dem Ölgeschäft haben, ergeben sich offenkundige Probleme der internationalen Sicherheit. Gamage stellt die Überlegung an: »Wenn die Rebellion tatsächlich zum Sturz des Gaddafi-Regimes führt, so bedeutet dies Zugang zu den zig Milliarden Dollar, die Gaddafi angeblich während seiner 40-jährigen Amtszeit auf ausländischen Konten angehäuft hat.«(15) Angesichts der im Nordosten Libyens vorherrschenden Mentalität können wir uns unschwer vorstellen, wofür solche Einnahmen dann verwendet würden.
Was ist die Al-Kaida – und warum die CIA sie benutzt hat
Die Al-Kaida ist keine zentralisierte Organisation, sondern vielmehr ein Sammelbecken von Fanatikern, Irregeleiteten, Psychotikern, Außenseitern, Doppelagenten, Provokateuren, Söldnern und sonstigen Elementen. Wie bereits erwähnt, wurde die Al-Kaida von den USA und England während des Kampfes gegen die Sowjetunion in Afghanistan gegründet. Viele ihrer Führer, beispielsweise der mutmaßliche zweite Mann Ayman Zawahiri und der neue aufsteigende Stern Anwar Awlaki, sind offensichtlich Doppelagenten der MI-6 und/oder CIA. Die al-Qaida betrachtet grundsätzlich alle bestehenden arabischen und muslimischen Regierungen als illegitim; sie müssten beseitigt werden, da sie nicht das Kalifat repräsentierten, wie es im Koran – so die Al-Kaida – beschrieben werde. Somit bietet die Ideologie der Al-Kaida den angloamerikanischen Geheimdienstbehörden einen einfachen Weg, gegen bestehende arabische und muslimische Regierungen vorzugehen und sie zu destabilisieren – in dem unablässigen Bestreben des Imperialismus und Kolonialismus, Entwicklungsländer anzugreifen und auszubeuten. Genau dies geschieht momentan in Libyen.
Al-Kaida entstand aus dem kulturellen und politischen Umfeld der Moslembruderschaft oder Ikhwan, ihrerseits ein Geschöpf des britischen Geheimdienstes aus dem Ende des Jahres 1920 in Ägypten. Erfolgreich nutzten die USA und Großbritannien die ägyptische Moslembruderschaft gegen die erfolgreiche antiimperialistische Politik von Ägyptens Präsident Nasser, der mit der Verstaatlichung des Suezkanals und dem Bau des Assuan-Staudamms enorme Erfolge für sein Land errang, ohne die das heutige Ägypten schlicht undenkbar wäre. Die Moslembruderschaft war eine wirksame Fünfte Kolonne ausländischer Agenten gegen Nasser – genauso, wie heute die offizielle Website der Al-Kaida im Islamischen Maghreb ihre Unterstützung für die Rebellion gegen Oberst Gaddafi herausposaunt.
Meine ausführlichere Darstellung des Wesens der Al-Kaida, die in meinem vor einiger Zeit erschienenen Buch 9/11 Synthetic Terrorism: Made in USA enthalten ist, kann an dieser Stelle nicht wiederholt werden. Es reicht jedoch die Feststellung, dass man dem fantastischen Mythos, mit dem die US-Regierung den Namen Al-Kaida umgibt, keinen Glauben schenken und vielmehr die Tatsache anerkennen sollte, dass viele der Kämpfer oder Irregeleiteten, die sich spontan der Al-Kaida anschließen, von abgrundtiefem Hass gegen die Vereinigten Staaten und dem brennenden Wunsch, Amerikaner und auch Europäer zu töten, motiviert sind. Der Bush-Regierung bot die angebliche Präsenz der Al-Kaida den Vorwand für direkte militärische Angriffe gegen Afghanistan und den Irak. Die Regierung Obama geht heute anders vor, sie interveniert zugunsten einer Rebellion, in der Al-Kaida und deren Gesinnungsgenossen stark vertreten sind, und bekämpft die säkular-autoritäre Regierung von Oberst Gaddafi. Die eine wie die andere Politik ist zum Scheitern verurteilt und sollte umgehend aufgegeben werden.
Rebellenführer Jalil und Junis sowie die meisten Mitglieder des Rebellen-Rats sind Mitglieder des mit der Al-Kaida verbundenen Stammes der Harabi
Nach heutigen Erkenntnissen ist der libysche Zweig von Al-Kaida die Fortsetzung der Libyschen Islamischen Kampfgruppe, deren Zentrum die Städte Darnah und Benghasi sind. Die ethnische Basis der LIFG bildet allem Anschein nach der Gaddafi-feindliche Stamm der Harabi, dem neben der Mehrheit der Mitglieder des Rebellen-Rats auch die beiden Hauptanführer der Rebellion, Abdul Fattah Junis und Mustafa Abdul Jalil, angehören. Alles deutet demnach darauf hin, dass es in der Praxis Überlappungen zwischen der LIFG, der Elite des Harabi-Stammes und dem von Obama unterstützten Rebellen-Rat gibt. Von Fred Wills, dem inzwischen verstorbenen ehemaligen Außenminister von Gyuana, einem echten Kämpfer gegen Imperialismus und Kolonialismus, habe ich vor vielen Jahren gelernt, dass sich hinter der Maske politischer Gruppierungen in Entwicklungsländern (und nicht nur dort) oftmals ethnische und religiöse Rivalitäten verbergen; so ist es auch in Libyen. Die Rebellion gegen Gaddafi ist ein gefährliches Gebräu aus fanatischem Hass gegen Gaddafi, Islamismus, Stammeswesen und Lokalpatriotismus. Aus dieser Sicht war es töricht von Obama, in einem Stammeskrieg Partei zu ergreifen.
Als Hillary Clinton nach Paris reiste, um dort vom französischen Präsidenten Sarkozy den libyschen Rebellen vorgestellt zu werden, traf sie mit dem in den USA ausgebildeten libyschen Oppositionsführer Mahmoud Jibril zusammen, der den Lesern der Wikileaks-Veröffentlichungen bereits als Günstling der USA bekannt ist.(16)
Während man Jibril in Paris anscheinend für präsentabel hielt, sind die wirklichen Anführer des Aufstands in Libyen wohl eher Jalil und Junis, beide ehemalige Minister unter Gaddafi. Jalil erscheint dabei, zumindest im Augenblick, als primus inter pares: »Mustafa Abdul Jalil oder Abdul-Jelil (arabisch: مصطفى عبد الجليل, auch transkribiert als Abdul-Jelil, Abd-al-Jalil, Abdel-Jalil oder Adeljalil und häufig, aber falsch, auch als Abdul Al Jeleil), geboren 1952, ist ein libyscher Politiker. Er war Justizminister (inoffiziell Sekretär des Allgemeinen Volkskomitees) unter Oberst Muammar al-Gaddafi […] Abdul Jalil gilt als Vorsitzender der in Benghasi ansässigen Übergangsregierung […], obwohl andere Aufständische diese Position wegen seiner früheren Verbindungen zum Gaddafi-Regime anfechten.«(17) Junis hingegen galt seit Gaddafis Machtübernahme 1968/69 als dessen enger Weggefährte: »Abdul Fattah Junis (arabisch: عبد الفتاح يونس) ist ein hoher Militär in Libyen. Er diente im Rang eines Generals und war Innenminister, trat jedoch am 22. Februar 2011 von seinem Amt zurück […].«(18)
Am meisten sollte uns beunruhigen, dass sowohl Jalil als auch Junis dem Stamm der Harabi angehören, dem dominierenden Stamm in Nordost-Libyen, bei dem es Überschneidungen mit Al-Kaida gibt. Laut [der US-Denkfabrik] Stratfor ist der »[…] Stamm der Harabi seit jeher eine Art einflussreicher Dachverband der Stämme in Ostlibyen, die ihren Einfluss unter Oberst Gaddafi schwinden sahen. Der libysche Führer beschlagnahmte große Ländereien von Stammesmitgliedern und verteilte sie an schwächere und loyalere Stämme […]. Viele der Führer, die jetzt in Ostlibyen auftauchen, stammen vom Stamm der Harabi, darunter auch Abdel Mustafa Jalil, der Chef der in Benghasi gebildeten Übergangsregierung, und Abdel Fattah Junis, der zu Beginn des Aufstands eine wichtige Führungsrolle für die desertierten Militärangehörigen übernahm.«(19) Es ist so, als stammten die Bewerber für das Amt des US-Präsidenten und Vizepräsidenten beide aus demselben Bundesstaat – mit dem Unterschied, dass die erbitterten Kämpfe zwischen den einzelnen Stämmen in Libyen das Problem unendlich schlimmer machen.
Der Rebellen-Rat: Die Hälfte der Namen wird geheim gehalten – warum?
Das Bild einer begrenzten, sektiererischen Basis von Stamm und Region wird auch nicht besser, wenn wir den Rebellen-Rat als Ganzen betrachten. Laut einer neueren Version steht dem Rebellen-Rat »der redegewandte ehemalige libysche Justizminister Mustafa Abdul Jalil vor; der Rat besteht aus 31 Mitgliedern, angeblich Vertretern aus ganz Libyen, von denen viele ›aus Sicherheitsgründen‹ nicht namentlich genannt werden können […].«(20) »Die Schlüsselleute im Rat, zumindest die, von denen wir wissen, stammen allesamt von dem im Nordosten des Landes ansässigen Verband der Harabi-Stämme. Diese Stämme unterhalten enge Verbindungen mit Benghasi, die bis in die Zeit vor der Revolution von 1969, die Gaddafi an die Macht brachte, zurückreichen.« Andere Berichte geben die Zahl der Ratsmitglieder übereinstimmend an: »Der Rat hat 31 Mitglieder, deren Identität in einigen Fällen zum Schutz der eigenen Sicherheit nicht preisgegeben wird.«(21) Angesichts dessen, was wir über die ungewöhnliche Dichte von LIFG- und Al-Kaida-Fanatikern in Nordost-Libyen wissen, ist die Frage gerechtfertigt, ob die Namen so vieler Ratsmitglieder geheim gehalten werden, um sie vor Gaddafi zu schützen, oder ob auf diese Weise verhindert werden soll, dass sie im Westen als Al-Kaida-Sympathisanten oder Terroristen identifiziert werden. Letzteres scheint der Wahrheit näher zu kommen.
Zu den bisher veröffentlichten Namen gehören: Mustafa Abduljaleel, Ashour Hamed Bourashed aus Darnah, Othman Suleiman El-Megyrahi aus der Region Batnan, Al Butnan aus der ägyptischen Grenzregion und Tobruk, Ahmed Abduraba Al-Abaar aus Benghasi, Omar El-Hariri für militärische Angelegenheiten; Dr. Mahmoud Jibril, Ibrahim El-Werfali sowie Dr. Ali Aziz El-Eisawi für auswärtige Angelegenheiten.(22) Das State Department sollte sich diese Vertreter ganz genau ansehen, angefangen vielleicht mit Ashour Hamed Bourashed, dem Delegierten aus der Terroristen- und Selbstmordattentäter-Hochburg Darnah.
Wie viele Al-Kaida-Mitglieder, Veteranen und Sympathisanten gehören dem Rebellen-Rat an?
Soweit man es bei der undurchsichtigen Lage des Krieges sagen kann, sind die Namen von gut einem Dutzend der Mitglieder des Rebellen-Rats veröffentlicht worden – das ist jedoch nicht einmal die Hälfte der angeblich 31 Mitglieder. Amerikanische und europäische Medien haben keine Anstrengungen gemacht, Auskunft über die Personen zu geben, deren Namen bis jetzt bekannt sind, und auch nicht darüber berichtet, dass über die Mehrheit der Mitglieder des Rebellen-Rates noch immer nicht das Geringste bekannt ist. Wir müssen deshalb Auskunft darüber verlangen, wie viele Mitglieder, Veteranen oder Sympathisanten von LIFG und/oder Al-Kaida im Rebellen-Rat sitzen.
Wir sind Zeuge des Versuchs des Harabi-Stammes, die Herrschaft über die 140 libyschen Stämme an sich zu reißen. Unter den Stämmen der Cyrenaika spielen die Harabis schon jetzt praktisch die führende Rolle. Im Zentrum der Harabi-Konföderation steht der Stamm der Obeidat, der sich aus 15 Unterstämmen zusammensetzt.(23) All dies wäre vielleicht von rein akademischem ethnografischen Interesse, gäbe es da nicht diese auffallende Überlappung zwischen dem Stamm der Harabi, der LIFG und Al-Kaida.
Die Senussi-Bewegung in Libyen – monarchistische Demokratie?
Die politisch-religiöse Tradition Nordost-Libyens macht diese Region zu einem fruchtbaren Nährboden für die extremeren muslimischen Sekten und darüber hinaus empfänglicher für eine Monarchie als für eine modernere Regierungsform, der Gaddafi den Vorzug gibt. Die relevante regionale Tradition ist die der Senussi- oder Sanussi-Bruderschaft, einer antiwestlichen muslimischen Sekte. In Libyen ist die Senussi-Bruderschaft eng mit der Monarchie verbunden, da König Idris I., der 1951 von den Briten eingesetzte und 1969 von Gaddafi gestürzte Herrscher, auch Anführer des Senussi-Ordens war. Die Senussi-Bruderschaft stand in den 1930er Jahren an der Spitze der Rebellion gegen den italienischen Kolonialismus in Gestalt von Marschall Rodolfo Grazini und seiner Armee. Heute benutzen die Rebellen die Flagge der Monarchie; es ist nicht auszuschließen, dass sie für die Rückkehr eines der beiden Thronanwärter aus der Idris-Linie eintreten. Bisher stehen sie der Monarchie weit näher als der Demokratie.
König Idris, von den heutigen Rebellen in Libyen verehrt
Bei Stratfor beurteilt man König Idris und die Senussi folgendermaßen: »König Idris entstammte einer Herrscherlinie des Senussi-Ordens, einer 1842 in Al Bayda gegründeten sufistisch-religiösen Bruderschaft, die eine konservative, strenge Form des Islam praktiziert. Die Sanussiya war eine politische Kraft in der Cyrenaika, die der Schaffung des modernen Staates Libyen voranging und deren Nachwirkungen noch heute spürbar sind. Es ist kein Zufall, dass diese Region mit Gruppen wie der Libyschen Islamischen Kampfgruppe (LIFG) auch die Heimat des libyschen Jihadismus ist. Dementsprechend bezeichnet die Gaddafi-Familie den derzeitigen Aufstand auch als ausgeklügelte islamistische Verschwörung […].«(24) Unter der Monarchie galt Libyen weithin als das ärmste Land der Welt. Heute rangiert Libyen auf Platz 53 des [UN-Wohlstandsindikators] Human Development Index und gilt als das am weitesten entwickelte Land in Afrika; es rangiert noch vor Russland, Brasilien, der Ukraine und Venezuela. Gaddafis Führung hat objektive Verdienste, die nicht ernsthaft bestritten werden können.
Glen Fords Black Agenda Report hat sich zu Recht bemüht, den rassistischen und reaktionären Charakter des Aufstands in Libyen zu belegen. Die Stämme in Süd-Libyen, bekannt als die Fezzan, sind dunkelhäutig. Die Stütze von Gaddafis Herrschaft war stets eine Allianz der Stämme im Westen und im Zentrum Libyens sowie der Fezzan im Süden gegen die Harabi und die Obeidat, die sich mit den früheren herrschenden Monarchisten identifizieren. Die Harabi und Obeidat sind für ihren tiefsitzenden rassistischen Hass gegen die Fezzan bekannt. Das kam in Meldungen der proimperialistischen Medien zu Beginn des Aufstands zum Ausdruck, die offenkundig von Berichten der Harabi inspiriert waren, denen zufolge Schwarze in Libyen als Söldner für Gaddafi zu betrachten seien – mit der klar implizierten Folgerung, dass sie ausgelöscht werden müssten. Solche rassistischen Erfindungen werden noch immer von akademischen Klugschwätzern wie Dean Slaughter von der Woodrow Wilson School in Princeton nachgeplappert. Tatsächlich sind in Libyen viele Gastarbeiter aus dem Tschad und anderen Ländern von Anti-Gaddafi-Kräften systematisch ermordet worden. Das Weiße Haus unter Obama hat entgegen allem leeren Gerede darüber, man wolle keine Wiederholung des Massakers von Ruanda, diese schockierende Geschichte eines Massenmords durch ihre neuen rassistischen Freunde in der Cyrenaika bislang geflissentlich ignoriert.
Entgegen dem Obskurantismus der Senussi hat Gaddafi das muslimische Äquivalent eines Priestertums aller Gläubigen gefördert, unter Hinweis darauf, dass man kein Kalifat brauche, um die Bedeutung des Korans zu ermitteln. Ergänzt wurde dies durch eine panafrikanische Perspektive. Gerald A. Perreira von Black Agenda Report schreibt Folgendes über die theologische Spaltung zwischen Gaddafi und der Neo-Senussi-Bruderschaft in Nordost-Libyen und andere Formen des Obskurantismus: »Al-Kaida steht in der Sahara an seinen Grenzen und die Internationale Union muslimischer Gelehrter verlangt, [Gaddafi] vor Gericht zu stellen […]. [Gaddafi] hat den Islam der Moslembruderschaft und Al-Kaidas aus koranisch-theologischer Sicht infrage gestellt, er gehört zu den wenigen Politikern, die dazu in der Lage sind […]. Benghasi war schon immer das Zentrum der Konterrevolution in Libyen, dort wurden reaktionäre islamistische Bewegungen wie die Wahabiten und Salafiten gefördert. Diese Leute haben die in Benghasi beheimatete Libysche Islamische Kampfgruppe gegründet, die sich mit Al-Kaida verbündet hat und seit Jahren für die Ermordung führender Mitglieder des libyschen Revolutionskomitees verantwortlich zeichnet.«(25) Und außerdem: Wie wäre es wohl unter den Neo-Senussis im Rebellen-Rat von Benghasi beispielsweise um die Stellung der Frauen bestellt?
Al-Kaida: vom Dämonen zum US-Alliierten in Libyen
Wer versucht, das Hin und Her zu verfolgen, wie die CIA ihre verschiedenen Organisationen im Bereich des mutmaßlichen islamischen Terrorismus handhabt, für den mag es nützlich sein, der Wandlung der LIFG-AQIM vom Todfeind zum engen Alliierten genauer auf den Grund zu gehen. Dieses Phänomen ist eng verbunden mit der allgemeinen Umkehr der ideologischen Fronten des US-Imperialismus, welche die Trennungslinie zwischen der neokonservativen Regierung Bush-Cheney und dem heutigen Regime von Obama, Brzezinski und der International Crisis Group markiert. Bush nutzte die Präsenz der Al-Kaida als Begründung für einen direkten militärischen Angriff. Obamas Methode besteht darin, die Al-Kaida für den Sturz unabhängiger Regierungen zu nutzen und die betreffenden Länder anschließend zu »balkanisieren«, d.h. aufzuteilen, oder sie als Kamikaze-Marionetten gegen größere Gegner wie Russland, China oder den Iran einzusetzen. Diese Herangehensweise bezieht eine mehr oder weniger offene Verbrüderung mit terroristischen Gruppen ein, die Obama in seiner berühmten Kairoer Rede 2009 bereits in allgemeinen Zügen anklingen ließ. Die Verbindungen der Obama-Kampagne zu den von der CIA gegen Russland eingesetzten terroristischen Organisationen wurden bereits vor drei Jahren aktenkundig.(26)
Doch ein solcher Richtungswechsel lässt sich nicht über Nacht improvisieren; dazu waren mehrjährige Vorbereitungen erforderlich. Am 10. Juli 2009 berichtet der Londoner Daily Telegraph, die Libysche Islamische Kampfgruppe habe sich von Al-Kaida getrennt. Damals hatten sich die USA entschlossen, weniger Gewicht auf den Krieg im Irak zu legen und Vorbereitungen zu treffen, die sunnitische Moslembruderschaft und deren sunnitischen Al-Kaida-Ableger zur Destabilisierung der führenden arabischen Staaten zu nutzen, um diese anschließend gegen den schiitisch geprägten Iran zu wenden. Paul Cruikshank schrieb damals in der Zeitung New York Daily News über einen führenden LIFG-Mann, der zu den alten Beziehungen zur Al-Kaida und dem berüchtigten Osama bin Laden zurückkehren wollte; es handelte sich um »Noman Benotman, ein ehemals führendes Mitglied der Libyschen Islamischen Kampfgruppe. Während führende Vertreter des muslimischen Mainstream Al-Kaida seit Langem kritisieren, verfügen diese Kritiker über eine jihadistische Legitimation, sodass ihre Kritik wirklich weh tut.«(27) Doch zu diesem Zeitpunkt waren einige LIFG-Bosse innerhalb der Al-Kaida bereits in Führungspositionen aufgestiegen: Wie der Londoner Daily Telegraph berichtete, waren die Al-Kaida-Führungsmitglieder Abu Yahya al-Libi und Abu Laith al-Libi Mitglieder der LIFG. Ungefähr zur selben Zeit setzte Gaddafi in einer unüberlegten humanitären Geste einige LIFG-Kämpfer auf freien Fuß.
Jihadisten aus Nordost-Libyen töten gerade jetzt amerikanische und NATO-Soldaten in Afghanistan
Es gehört zu den fatalen Widersprüchlichkeiten der heutigen Politik von State Department und CIA, dass eine freundliche Allianz mit Al-Kaida-Killern in Nordost-Libyen angestrebt wird – genau in dem Moment, wo die USA und die NATO im Namen eines totalen Krieges gegen Al-Kaida gnadenlose Bombenangriffe auf zivile Gebiete in Nordwest-Pakistan richten, und amerikanische und NATO-Soldaten auf demselben Kriegsschauplatz Afghanistan-Pakistan von Al-Kaida-Guerillakämpfern ermordet werden. Diese offenkundige Widersprüchlichkeit wiegt so schwer, dass das ganze Gebäude der US-Kriegspropaganda dadurch ins Wanken gerät. Die USA haben längst jegliche moralische Basis verloren, was die militärische Streitkraft angeht.
Tatsächlich bringen vielleicht gerade in diesem Moment Terroristen aus Nordost-Libyen amerikanische und NATO-Soldaten in Afghanistan um, obwohl die USA und die NATO ihre Heimatbasis vor der Gaddafi-Regierung schützen. Diesem Bericht zufolge wurde noch im Oktober 2010 ein führender Al-Kaida-Kommandeur im Rahmen eines US-Einsatzes im Nordwesten Pakistans getötet: »Ein führender Al-Kaida-Mann, der als Botschafter der Al-Kaida im Iran fungierte und von den USA gesucht wird, ist Berichten zufolge vor zwei Tagen bei einem Angriff auf die von den Taliban kontrollierte Stammesbehörde in Nord-Waziristan getötet worden […]. [Es handelt sich um] Atiyah Abd al Rahman, einen libyschen Staatsbürger, der im Iran als Osama bin Ladens Botschafter bei den Mullahs fungierte. Unbestätigten Presseberichten zufolge wurde Rahman bei einem Luftangriff getötet […].«(28) Auf der Seite des »Rewards-for-Justice«-Programms des US-State Department wird Atiyah Ab del Rahman als Al-Kaidas »von Osama bin Laden ernannter Gesandter im Iran« bezeichnet. Atiyah »rekrutierte und ermöglichte Gespräche mit anderen islamistischen Gruppen, um unter« Al-Kaida zu operieren, er sei »auch Mitglied der Libyschen Islamischen Kampfgruppe und Ansar al Sunna« gewesen.(29) Rahman war innerhalb der Al-Kaida immerhin so hoch angesiedelt, dass er Abu Musab al-Zarqawi, 2005 Chef der Al-Kaida im Irak, Befehle erteilen konnte.
In Pakistan kam noch ein weiterer, offenkundig aus Nordost-Libyen stammender Kämpfer namens Khalid al Harabi ums Leben; dieser mutmaßliche Kampfname könnte auf eine Verbindung zu den Jihadisten unter dem Stamm der Harabi in der Cyrenaika hindeuten. Einem Bericht zufolge ist »Khalid al Harabi ein Deckname für Khalid Habib, den ehemaligen militärischen Kommandeur der Al-Kaida, der im Oktober 2008 bei einem US-Drohnenangriff getötet wurde.«(30)
Das 1995 in der Shayler-Affäre aufgedeckte Szenario ist heute operativ
1995 bemerkte David Shayler, ein Beamter des britischen Spionageabwehrdienstes MI-5, dass sein Amtskollege beim britischen Auslandsgeheimdienst MI-6 einem Al-Kaida-Anhänger als Gegenleistung für einen Mordversuch an Gaddafi 100.000 Pfund bezahlt hatte. Es kam tatsächlich zu diesem Mordversuch; mehrere unschuldige Zuschauer kamen dabei ums Leben, der libysche Herrscher überlebte jedoch. So wie Shayler das MI-6-Szenario verstand, zählte dazu die Liquidierung Gaddafis, woraufhin Libyen in Chaos und Stammeskriegen versinken würde; eine mögliche Option war die direkte Machtübernahme durch die Al-Kaida. Diese Lage hätte Großbritannien dann zum Vorwand für eine Invasion nach Libyen genommen, möglicherweise, aber nicht notgedrungen, gemeinsam mit den USA oder anderen Ländern, um danach die Kontrolle über die Ölfelder zu übernehmen und möglicherweise ein dauerhaftes Protektorat über die Ölgebiete, die Pipelines und die Küsten zu errichten.(31) Dies ist auch heute noch das Ziel.
Zeitlich abgestimmt mit dem Mordversuch an Gaddafi schürten MI-6 und andere westliche Geheimdienste einen Aufstand in Nordost-Libyen, fast genau in derselben Region, in der auch heute die Rebellion ihren Ausgang nimmt. Der Aufstand wurde Ende 1996 von Gaddafis Truppen erfolgreich niedergeschlagen. Die Entwicklungen von 2011 sind nichts weiter als eine Wiederholung des imperialistischen Angriffs auf Libyen vor 15 Jahren, mit der zusätzlichen Intervention von außen.
Der Krieg gegen den Nationalstaat
Der heutige Angriff auf Libyen erfolgt im Zusammenhang mit einer breit angelegten Attacke auf die Institution des souveränen Nationalstaats, wie er seit dem Westfälischen Frieden von 1648 besteht. Die Vereinigten Staaten und Großbritannien sind zutiefst beunruhigt über die vielen Staaten, die sich von der anglo-amerikanischen Vorherrschaft befreien wollen und aus diesem Grund in Fragen der Sicherheit mit Russland, in Fragen der Wirtschaft mit China und aus geopolitischen Überlegungen mit dem Iran aktiv zusammenarbeiten. Die Antwort von CIA und MI-6 besteht in einer regelrechten Orgie von Destabilisierungsoperationen, People-Power-Coups, Farbenrevolutionen und Palastputschen – gekennzeichnet durch die »Limited-Hangout«-Operationen [eine Form partieller Selbstenthüllung], bekannt als Wikileaks, mit der Leute, die auf der CIA-Feindesliste standen, von Ben Ali bis Gaddafi, aufs Korn genommen wurden. Obamas Strategie hätte volles Vertrauen und die Illusion bevorzugt, der Arabische Frühling sei wirklich das Werk von visionären Idealisten, die sich auf öffentlichen Plätzen versammelten, um Demokratie, Rechtsstaat und Menschenrechte zu preisen. Doch so war es in Wirklichkeit nie: Die wirklichen Entscheidungen wurden stets von einer brutalen Generals-Clique und führenden Vertretern getroffen, die – von der CIA bestochen oder erpresst – hinter den Kulissen operierten, mit dem Ziel, Staatschefs wie Ben Ali oder Mubarak zu stürzen. Was immer Gaddafi sonst getan hat, die CIA und die NATO hat er ohne jeden Zweifel gezwungen, die freundliche Maske von jugendlichem Idealismus und Menschenrechten fallenzulassen, so dass darunter die hässliche Fratze von Predator-Drohnen, Terrorbombardements, verbreitetem Morden und kolonialer Arroganz zum Vorschein kommt. Gaddafi hat Obama auch die »Yes-We-Can«-Maske vom Gesicht gezogen, jetzt zeigt sich ein zynischer Kriegstreiber, der entschlossen ist, Bushs Politik von »Tot oder lebendig« und »Bring it on« fortzuführen, wenn auch mit anderen Mitteln.
Ein ferner Spiegel für die Imperialisten in Libyen: Lucanus‘ Pharsalia
Anstoß zu weitergehender Untersuchung aus der West-Point-Studie: Ein Aufruf an die Gelehrten
Die West-Point-Studie wurde, wie bereits erwähnt, auf der Grundlage von fast 700 Personalakten der Al-Kaida erstellt, die den Koalitionstruppen im Irak in die Hände gefallen waren.(33) Die Autoren der Studie haben zugesichert, dass die Dokumentenbasis für diese Untersuchung auch weiterhin online zur Verfügung steht, sowohl im arabischen Original der Al-Kaida-Personalakten als auch in englischer Übersetzung der einzelnen Karteikarten.(34) Unter der Voraussetzung, dass dieses Material verfügbar bleibt, könnten Forscher und Reporter – besonders diejenigen, die, anders als der Autor dieses Artikels, des Arabischen mächtig sind – die libyschen Kämpfer, die in den Irak gegangen sind, genauer darauf untersuchen, ob sie Familienmitglieder, Nachbarn oder gar politische Weggefährten der bekannten Mitglieder des Rebellen-Rats aus Benghasi oder sonstiger Anti-Gaddafi-Kräfte sind. Ein solches Verfahren könnte dazu beitragen, der Öffentlichkeit in Europa, Amerika und anderen Ländern den wirklichen Charakter des militärischen Abenteuers, das sich gegenwärtig in Libyen vollzieht, besser verständlich zu machen, und zwar dadurch, dass man besser verstünde, wer diese libyschen Rebellen in Wirklichkeit sind, im Gegensatz zu den hohlen Lobeshymnen, die zurzeit in den westlichen Medien angestimmt werden.
Quellen:
(1) Joseph Felter and Brian Fishman, »Al Qa’ida’s Foreign Fighter in Iraq: A First Look at the Sinjar Records« (West Point, NY: Harmony Project, Combating Terrorism Center, Department of Social Sciences, US Military Academy, December 2007). Hier zitiert als West-Point-Studie.
(2) Ebenda
(3) West-Point-Study, S. 8f.
(4) Daya Gamage, »Libyan rebellion has radical Islamist fervor: Benghazi link to Islamic militancy, U.S. Military Document Reveals«, Asian Tribune, 17. März 2011, unter http://www.asiantribune.com/news/2011/03/17/libyan-rebellion-has-radical-islamist-fervor-benghazi-link-islamic-militancyus-milit
(5) West-Point-Studie, S. 12.
(6) Ebenda, S. 19
(7) Ebenda, S. 27
(8) Ebenda, S. 9
(9) http://english.aljazeera.net/news/africa/2008/04/200861502740131239.html; http://www.adnkronos.com/AKI/English/Security/?id=1.0.2055009989
(10) West-Point-Studie, S. 12
(11) Ebenda, S. 27
(12) Ebenda, S. 29
(13) Ebenda, S. 28
(14) Siehe »Egypt Said to Arm Libya Rebels«, Wall Street Journal, 17. März 2011, unter http://online.wsj.com/article/SB10001424052748704360404576206992835270906.html; siehe auch Robert Fisk, »America’s secret plan to arm Libya’s rebels«, Independent, 7. März 2011, unter http://www.independent.co.uk/news/world/middle-east/americas-secret-plan-to-arm-libyas-rebels-2234227.html
(15) Gamage, Asian Tribune, a. a. O.
(16) http://www.bbc.co.uk/news/world-africa-12741414
(17) http://en.wikipedia.org/wiki/Mustafa_Abdul_Jalil (in englischer Sprache)
(18) http://en.wikipedia.org/wiki/Abdul_Fatah_Younis (in englischer Sprache)
(19) Stratfor, »Libya’s Tribal Dyanmics«, 25. Februar 2011, verfügbar unter http://redstomp.org/forums/showthread.php?1109-Libya-s-Tribal-Dyanmics
(20) Venetia Rainey, »Who are the rebels we are fighting to protect«, The First Post, http://www.thefirstpost.co.uk/76660,news-comment,news-politics,who-are-the-rebels-we-are-fighting-to-protect#ixzz1HMRIrUP9
(21) http://en.wikipedia.org/wiki/National_Transitional_Council
(22) Erklärung des »Übergangs-Nationalrats«, Benghazi, 5. März 2011, unter http://www.libyanmission-un.org/tnc.pdf; http://en.wikipedia.org/wiki/National_Transitional_Council
(23) Massimo Introvigne, »L’occidente alla guerra delle tribù«, La Bussola quotidiana, 22. März 2011, unter http://www.cesnur.org/2011/mi-rivolte-05.html
(24) Stratfor, »Libya’s Tribal Dyanmics«, 25. February 2011, verfügbar unter http://redstomp.org/forums/showthread.php?1109-Libya-s-Tribal-Dyanmics
(25) Gerald A. Perreira, »Libya, Getting it Right: A Revolutionary Pan-African Perspective«, Black Agenda Report, 2. März 2011, unter http://blackagendareport.com/content/libya-getting-it-right-revolutionary-pan-african-perspective
(26) Webster G. Tarpley, »Obama Campaign Linked To Chechen Terrorism: Grant Of Taxpayer-Funded U.S. Asylum For Chechen Terror Envoy Gave Obama Foreign Policy Guru Zbigniew Brzezinski ‘One Of The Happiest Days Of My Life’«, 2. Februar 2008, Obama the Postmodern Coup: The Making of a Manchurian Candidate (Joshua Treet CA: Progressive Press, April 2008), S. 97ff, online unter http://tarpley.net/2008/02/03/obama-campaign-linked-to-chechen-terrorism/ Deutsche Ausgabe: Barack Obama – Wie ein US-Präsident gemacht wird, Rottenburg, Kopp-Verlag, 2008
(27) Paul Cruikshank, »How Muslim extremists are turning on Osama Bin Laden«, New York Daily News, 8. Juni 2008, unter http://www.webcitation.org/query?url=http%3A%2F%2Fwww.nydailynews.com%2Fopinions%2F2008%2F06%2F08%2F2008-06-08_how_muslim_extremists_are_turning_on_osa.html&date=2009-08-05. Cruikshank ist Forscher am Center on Law and Security der New York University und gemeinsam mit Peter Bergen Autor einer Titelstory in der Zeitschrift New Republic, »The Jihadist Revolt against Bin Laden«
(28) http://www.longwarjournal.org/archives/2010/10/al_qaeda_leader_link.php
(29) http://www.longwarjournal.org/archives/2010/10/al_qaeda_leader_link.php#ixzz1HNoUTmn5
(30) http://www.longwarjournal.org/archives/2010/10/al_qaeda_leader_link.php#ixzz1HNmzsjat
(31) Siehe Machon, Annie (2005). Spies, Lies & Whistleblowers. MI5, MI6 and the Shayler Affair. Lewes, East Sussex: The Book Guild Ltd. 185776952X; Hollingsworth, Mark; Nick Fielding (1999). Defending the Realm: MI5 and the Shayler Affair. Andre Deutsch Ltd. ISBN 0233996672; siehe auch Guardian, 10. April 2000, http://www.guardian.co.uk/uk/2000/apr/10/davidshayler.richardnortontaylor
(32) Lucan, Pharsalia, Book IX, trans Riley (London: Bell, 1903), S. 355
(33) http://www.ctc.usma.edu/harmony/pdf/CTCForeignFighter.19.Dec07.pdf
(34) http://www.ctc.usma.edu/harmony/Foreign_Fighter_Bios-Orig.pdf