Dass immer mehr ungefährliche, aber randständige Menschen auf Vorrat verwahrt werden, ist ein Trend. Am 3. Juli 2013 hat das Kantonsgericht Schaffhausen nun die Massnahme von Erich Schlatter aufgehoben - ein Präzedenzfall.
Erich Schlatter
Seit Juli 2004 war Erich Schlatter - mit einem Unterbruch von vier Jahren, in denen er auf der Flucht war - in einem Massnahmenvollzug nach Art. 59 (Art. 43.1.1 nach dem alten Strafgesetzbuch) und damit im Gefängnis. Dort sass er nicht eine Strafe ab, sondern machte eine "deliktorientierte Therapie". In den vergangenen 20 Jahren stieg die Zahl der Menschen in einer stationären Massnahme rasant an. Grund dafür ist eine Verschiebung vom Schuldprinzip zum Präventionsprinzip in der Justiz. Mit Hilfe von psychiatrischen Gutachten, die sich wiederum auf mathematische Modelle stützen, macht man bei Delinquenten eine Risikoanalyse wie im Versicherungswesen für eine Erdbebenpolice oder in der Meteorologie für die Wetterprognose. Und das nicht etwa nur bei Schwerverbrechern, sondern auch bei Leuten, die noch nie jemanden ernsthaft verletzt haben. Bestraft wird also nicht eine Tat, die geschehen ist, sondern eine Tat, die in Zukunft geschehen könnte. "Jede Tat ist berechenbar", so Frank Urbaniok, Chef des PPD Zürich. Das Zauberwort der Stunde heisst "Legalprognose".
Da die Massnahme 59 nicht für Schwerverbrecher, sondern für Kleindelinquenten mit psychischen Störungen gedacht ist, gilt sie nicht lebenslänglich, sondern muss alle fünf Jahre evaluiert und allenfalls verlängert werden. Im Fall von Erich Schlatter ging die Staatsanwaltschaft sogar noch weiter und plädierte im letzten Moment auf lebenslängliche Verwahrung nach Art. 64, da Schlatter gefährlich und untherapierbar sei. "Jeder, der in einer Massnahme nach Art. 59 ist, trägt das Risiko des Art. 64 im Rucksack mit sich", erklärte der Staatsanwalt an der Verhandlung. Scheitere die therapeutische Massnahme, so müsse die lebenslängliche Verwahrung geprüft werden und diese sei bei Schlatter nun anzuordnen. Als Grund führte er die schlechte Legalprognose, d.h. die hohe Rückfallgefahr an (wobei nicht klar wurde, was da genau rückfallen soll, da Schlatter noch nie eine schwere Tat begangen hat, geschweige denn wegen einer solchen verurteilt worden wäre), die Therapieresistenz sowie das Sicherheitsbedürfnis der Bevölkerung.
Schlatters Anwalt machte in seinem Plädoyer vor allem glaubhaft, dass sein Mandant in den letzten 10 Jahren unter widrigsten Umständen sowohl in Gefangenschaft als auch in Freiheit (auf seiner Flucht) nie auch nur handgreiflich geworden sei, ein Umstand, der in keinem Gutachten erwähnt werde. Den Behörden gehe es offensichtlich auch nicht darum, ihn zu therapieren, da sie trotz gegenteiliger Empfehlung in den Gutachten eine milieutherapeutische Behandlung seit Jahren systematisch verhindern - um dann zu deklarieren, die Therapie sei gescheitert. Falls man Schlatter nicht freilasse, solle man ihn wenigstens in eine geschlossene Institution überweisen, die auf Milieutherapie ausgerichtet sei. In Frage kämen z.B. das Haus Brünnliacker in Berg TG oder die Sonnhalde in Grüningen, und wo er zwar weiterhin isoliert und eingesperrt wäre, aber immerhin Besuch empfangen könnte.
Unmissverständlich fiel dann das Urteil des Gerichts aus. Es trat weder auf den Antrag der Staatsanwaltschaft auf lebenslängliche Verwahrung ein, noch auf den Antrag (eventualiter), die Massnahme um fünf Jahre zu verlängern, noch auf den Antrag (eventualiter) der Verteidigung, die Massnahme in einer geeigneten Institution fortzusetzen. Die 2005 angeordnete Rechtsstrafe von 15 Monaten und 9 Tagen plus der Rest der Vorstrafe von 3 Monaten und 12 Tagen (total 18 Monate und 3 Tage) seien mehrfach abgesessen. Zuständig sei nun die Erwachsenenschutzbehörde des Kantons Schaffhausen, die ihm nach eigenem Ermessen einen Beistand geben könne.
Das Urteil wurde damit begründet, dass Schlatter nicht behandelbar und somit nicht massnahmefähig sei. Die Massnahme in Rheinau sei gescheitert, die JVA Pöschwies sei erklärtermassen nicht eingerichtet dafür, ihn zu betreuen (geschweige denn zu therapieren) und für eine Verlegung in eine andere geschlossene Betreuungsinstitution sei das Gericht gar nicht zuständig, das wäre Sache der Vollzugsbehörde gewesen. Die Voraussetzungen für die vom Staatsanwalt geforderte lebenslängliche Verwahrung seien nicht gegeben. Entscheidend ist dabei die Anlasstat, wobei der Vorsitzende herausstrich, dass der Eventualvorsatz beim damaligen Urteil nicht im Sinne einer Planung der Tat geltend gemacht worden sei, sondern im Sinne einer impulsiven Überreaktion. Das Gericht schätze die Gefahr für eine zukünftige schwere Verletzungstat oder gar Tötung als unwahrscheinlich ein. Die Verhältnismässigkeit für eine Verwahrung nach Art. 64 sei nicht gegeben.
Seit dem 16. Juli 2013 ist Erich frei. Es ist ein wegweisendes Urteil für einen Staat mit einer liberalen Gesellschaftsordnung.
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