Nach dem Votum der Schweizer Bevölkerung gegen weitere Zuwanderung aus der EU diskutiert ganz Europa über die Folgen der Entscheidung. Wollen die Schweizer nur die Vorteile des riesigen europäischen Binnenmarktes nutzen, sich an der Idee eines geeinten Europas aber nicht beteiligen? Die europäische Presse und Intellektuelle warnen vor steigender Fremdenfeindlichkeit in Europa. Auch in der Schweiz wird harte Kritik laut, gleichzeitig aber auch Selbstbewusstsein.

Volksentscheid in der Schweiz gegen Masseneinwanderung
Mit Postern wie diesem warb die Schweizerische Volkspartei (SVP) gegen "Masseneinwanderung".
© picture alliance / dpa/Thomas Burmeister

Der Schweizer Schriftsteller Adolf Muschg kritisiert seine Landsleute wegen des Erfolgs der Volksinitiative gegen "Masseneinwanderung" scharf. Er empfinde angesichts der Abstimmung "ein Stück Scham", sagte Muschg im Deutschlandradio. Das Ergebnis zeige "einen tiefen Mangel an kosmopolitischer Substanz." Er gehe davon aus, dass sein Land für die Begrenzung der Zuwanderung einen hohen politischen Preis zahlen werde. Muschg forderte die EU auf, nicht "windelweich" zu reagieren. Die Schweizer sollten merken, was sie angerichtet haben.

Ein Gespenst geht um in Europa

Die konservative Zeitung "Lidove Noviny" aus Prag schreibt zum Ausgang des Schweizer Referendums über Zuwanderung: "Es geht ein Gespenst um in Europa. Diesmal ist es nicht das Gespenst des Kommunismus, sondern das Gespenst der Zuwanderung. Die einen haben Angst vor einem starken Zufluss von Ausländern, die anderen vor dem Bau von Barrieren. Das gestrige Referendum in der Schweiz hat gezeigt, dass beide Lager fast gleich stark sind.

Laut gesagt, was andere denken

Die französische Regionalzeitung "L'Alsace" (Mulhouse) kommentiert das Votum der Schweizer für eine Beschränkung der Zuwanderung wie folgt: "Schaut man genau hin, so hat eine Mehrheit der Schweizer laut gesagt, was viele Europäer denken. In der Schweiz wie auch anderswo verbreitet sich ein Überdruss, weil Europa anscheinend nicht in der Lage ist, die Wirtschaft wieder in Gang zu bringen und es auch nicht schafft, die Migration zu kontrollieren. Der Zorn der Schweizer ist auf jeden Fall ein sehr schlechtes Zeichen für die globale Gesundheit Europas vier Monate vor den Wahlen zum europäischen Parlament. In der Schweiz und im übrigen Europa geniesst Europa nur noch ein beschränktes Vertrauen."

Schandtat der Schweiz stoppen

Die rechtsliberale Madrider Zeitung "El Mundo" schreibt, die EU solle der Schweiz Einhalt gebieten: "Der Schritt der Schweiz, die Zuwanderung von Arbeitnehmern der EU zu beschränken, ist im Prozess des europäischen Aufbaus ein Rückschritt. Diese Entscheidung fiel bei einem Referendum, das von einer populistischen Initiative "gegen die Masseneinwanderung" gefördert wurde. Per Gesetz werden von nun an jedes Jahr Einwanderer-Kontingente festgelegt, und es wird vorgeschrieben, dass bei Stellenbesetzungen Schweizer vor Ausländern den Vorzug bekommen sollen. Diese Bestimmungen verletzen die bilateralen Abkommen mit der EU und behandeln die Bürger der Eurozone wie jene von Nichtgemeinschaftsländern. Brüssel sollte diplomatische Aktionen in Gang setzen, um diese Schandtat zu stoppen."

Ins eigene Fleisch geschnitten

Die französische Regionalzeitung "Le Journal de la Haute-Marne" (Chaumont/Champagne) sieht das Votum der Schweizer kritisch: "Die Schweizer haben sich vielleicht mit diesem Votum ins eigene Fleisch geschnitten. Sie wollten vorsorglich handeln und die Einwanderung wirksam beschränken, aus Furcht vor einem Import der Arbeitslosigkeit. Doch die Regierungen der EU-Staaten, die linken wie die konservativen, sehen in diesem Votum ein sehr negatives Zeichen vor den Wahlen für das Strassburger Parlament. Klar gesagt, sie fürchten dadurch einen Auftrieb für nationalistische Parteien. Es ist abzusehen, dass die Regierung in Bern unter Druck gesetzt wird, um wie auch immer dieses Ergebnis zu relativieren. Die Schweizer können nicht von den Vorteilen ihrer privilegierten Beziehungen zu Europa profitieren und gleichzeitig die Freizügigkeit der Arbeitnehmer beschränken."

Schweizer leiden unter Einwanderung


Freizügigkeit in der Schweiz
Seit 2002 gilt freie Wahl des
Wohnsitzes zwischen EU
und Schweiz.

Die "Basler Zeitung" hält die Drohungen aus Brüssel für "anmassend": "Dass die Bürger sich von den anmassenden Drohungen aus Brüssel und den panischen, fast unterwürfigen Warnungen aus Bern nicht mehr beeindrucken liessen, ist das eine. Dass sie offenbar bereit sind, mit den schlimmsten Konsequenzen zu leben, die darin bestehen, dass die EU die bilateralen Abkommen womöglich verwirft, zeigt, wie sehr die Menschen in diesem Land unter der Zuwanderung gelitten haben, ob aus Einbildung oder zu Recht. Es zeigt aber auch - und das ist die gute Nachricht dieses legendären Sonntags  -, dass die Schweizer und Schweizerinnen entschlossen sind, das Schicksal ihres Landes selbst gestalten zu wollen. Wir können nicht alles, was unsere Souveränität ausmacht - und dazu gehört die Zuwanderungspolitik - auf dem Altar der europäischen Integration opfern, allein um einiger wirtschaftlicher Vorteile willen." (jfi/dpa)


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