Im Gespräch David Graeber, Vordenker der Occupy-Bewegung, über eine Demokratisierung des Geldes, die schwäbische Hausfrau und die Armen als Pioniere einer neuen Wirtschaftsordnung

Nur der Vier-Stunden-Tag kann uns retten
"Ein großer Teil der Arbeit entsteht überhaupt erst dadurch, dass wir zu viel arbeiten". Das Faultier ist klüger (Foto: alimdi/ imago)

Der Freitag: Könnte es sein, dass die Veränderungen, die der Kapitalismus in seiner langen Geschichte an den Individuen erzwungen hat, unumkehrbar sind? Dass es gar keinen Weg mehr zu einer humaneren Gesellschaft gibt?
David Graeber:
Wenn dieser Eindruck entsteht, hängt das auch damit zusammen, dass wir uns an antiquierte Vorstellungen von der Natur des Geldes klammern. Wir tun so, als wäre Geld eine begrenzte Ressource wie Öl. In Wirklichkeit ist Geld eine soziale Übereinkunft. Es besteht aus gesellschaftlich zirkulierenden Versprechen, die man freilich ganz anders organisieren könnte, als das heute der Fall ist. Leider gibt es im Moment eine Blockade der Imagination. Die Kreativität ist verloren gegangen, mit der Politiker in der Nachkriegszeit große Entwürfe wie den Wohlfahrtsstaat, die Vereinten Nationen oder das Weltraumprogramm umsetzten. Die Machteliten glauben, sie könnten das System am besten verteidigen, wenn sie die Menschen überzeugen, dass es keine Alternativen gibt.

Oft scheint es so, als mache der Finanzkapitalismus die eigentliche Natur des Kapitalismus aus. Wie ist das zu erklären?
Wir denken immer, die Finanzindustrie sei eine Art Überbau zur industriellen Basis. Erstaunlicherweise aber war dieser Überbau zuerst da: Aktienmärkte und halbstaatliche Zentralbankensysteme, die Staatsschulden aufkauften, gab es bereits Ende des 17. Jahrhunderts, während die Industrialisierung erst Mitte des 18. Jahrhunderts einsetzte. Diese Finanzinstrumente kamen nicht aus dem Nichts, sondern waren stets mit militärischen Operationen verbunden. Das Finanzsystem diente immer Eroberungsfeldzügen und der Kriegsmaschinerie von Staaten.

Aber ist das immer noch so?
Diese Kausalität gibt es immer noch. Die Vorherrschaft des Dollars zeigt das ganz deutlich. Was manche den Imperialismus der US-Staatsanleihen nennen, wurde durch die Bretton-Woods-Konferenz begründet, als die USA nach 1945 die Weltmachtrolle von Großbritannien übernahmen. Seither ist das imperiale US-System die Stütze der US-Finanzindustrie.

Wenn nun aber dieses System im Abstieg begriffen ist, bedeutet das dann auch, dass die Finanzialisierung des Kapitalismus ihren Höhepunkt überschritten hat?
Die gemäßigte Linke in den USA wird wütend, stellt man solche Verbindungen her. Aber zweifellos folgte die Krise von 2008 auf die Krise des imperialen Eroberers im Irak und in Afghanistan. Die strategische Überdehnung der US-Militärmacht, der Arabische Frühling und die Occupy-Bewegung –künftige Historiker könnten darin die erste Runde der Auseinandersetzungen über die Abwicklung des amerikanischen Empires erkennen.

Der uns im Moment bewegende Streit zwischen Sparpolitik und ausgabenbasierter Konjunkturpolitik in der Tradition von Keynes ist auch ein Konflikt zwischen Auffassungen, bei denen einerseits der substanzielle Wert des Geldes, auf der anderen Seite dessen soziale Funktion betont wird?
Man muss zunächst einem Irrtum vorbeugen: Wir können nicht zu ökonomischen Beziehungen zurückkehren, wie wir sie bis in die sechziger Jahre hatten. Der keynesianische Interessenausgleich, der den Wohlfahrtsstaat in Europa und zum Teil in den USA begründete, beruhte auf einer politischen Übereinkunft zwischen Machteliten und arbeitenden Massen. Die Systemkonkurrenz mit dem Sozialismus machte es möglich, dass Produktivitätszuwachs eine soziale Grundsicherung etablieren half. Hohe Wachstumsraten erlaubten eine relativ konfliktfreie Umverteilung des Reichtums. Der Kuchen wuchs, also konnten auch die einzelnen Kuchenstücke größer werden.

Und wie ist das heute?
Heute sind die Wachstumsraten sehr viel geringer. Aus ökologischen Gründen müssen sie das auch sein. Keynesianische Wachstumsraten von sechs oder sieben Prozent kann es also nicht mehr geben. Aber die Überzeugung von Keynes, dass Geld keine knappe Ressource ist, bildet die Grundlage des sogenannten postkeynesianischen Denkens. Damit beginnt erstmals eine ernsthafte Beschäftigung mit den realen Funktionen des Geldes im Wirtschaftsgeschehen und wird zugleich die Grundlage für eine mögliche Demokratisierung des Geldes gelegt.

Was ist darunter zu verstehen?
Wenn Geld aus einer Reihe von Versprechungen besteht, die sich Menschen gegenseitig machen, und wenn die Geldmenge nur die Menge zirkulierender Erklärungen ist, wie viel Wert wir in Zukunft produzieren möchten, dann muss darüber in einer Demokratie auch ein demokratischer Konsens hergestellt werden. Es gibt nichts Wichtigeres für eine Gesellschaft als diese Zukunftsversprechen, die wir uns gegenseitig geben. Es ist zutiefst undemokratisch, wenn nur ein Prozent der Bevölkerung darüber entscheidet. Nur durch diese Art der postkeynesianischen Neubestimmung der Natur des Geldes wird möglich sein, was ich die Demokratisierung des Geldes nenne.

Nur – was wird dann mit den Schulden, die sich über lange Perioden anhäufen und oft zu großen Krisen führen? Sind gigantische „Haircuts“, also die Tilgung aller Schulden, wirklich die Lösung?
Eine neue, wie immer auch geartete Finanzkrise ist so oder so unvermeidlich. Wer im ökonomischen Kaffeesatz lesen kann, wird das bestätigen, sofern ihn nicht persönliche Interessen daran hindern. Keines der Strukturprobleme wurde seit 2008 wirklich gelöst. Stattdessen ist es der Wall Street gelungen, die Kosten auf jene abzuwälzen, die das Problem überhaupt nicht zu verantworten haben. Die Finanzindustrie hat an den Rettungsakten außerdem prächtig verdient. Politisch ein genialer Coup: Man ruiniert die Weltwirtschaft und wird auch noch dafür bezahlt. Und was den Schuldenerlass angeht, der hat ja stattgefunden – als Schuldenerlass für die Reichen. Das sollte sich so nicht wiederholen. Was kein frommer Wunsch sein muss, wenn man anerkennt, dass wir in einer neuen Epoche leben und heute das Geld ganz anders funktioniert. Diese Erkenntnis könnte man nutzen, um ein Wirtschaftssystem zu schaffen, das allen ein besseres Leben ermöglicht.

Zeigen die Machtverhältnisse in Europa wie in den USA nicht in eine ganz andere Richtung?
Wenn ich mit Vertretern der Machteliten spreche, ist wachsende Panik spürbar. Natürlich verdrängen das viele, weil sie in den Businessschulen gelernt haben, maximal drei Jahre nach vorn zu blicken. Aber alle anderen machen sich große Sorgen. Sie erkennen, dass eine große Veränderung unvermeidlich ist und wir zugleich nicht mehr zur Reflexion fähig sind. Die wichtigsten Rechtfertigungen des Kapitalismus bestanden in seiner Fähigkeit, trotz wachsender sozialer Ungleichheit die Lebensbedingungen der Armen zu verbessern und Stabilität herzustellen. Beides trifft heute nicht mehr zu. Die einzig verbleibende Rechtfertigung ist: Es gibt keine Alternative, alles andere wäre nur noch schlimmer. Nicht einmal das Nachdenken über einen anderen Kapitalismus ist möglich. Man hält obsessiv an dieser ganz speziellen mehr oder weniger unproduktiven Form des Finanzkapitalismus fest, weil die Mächtigen Opfer ihres eigenen Erfolgs sind.

Es wurde sehr viel mehr in die Auseinandersetzung mit den Ideologien investiert als in ein nachhaltigeres kapitalistisches System. Nicht nur die Schuldenkrise, auch die ökologischen Zwänge sind nicht mehr zu übersehen. Für mich wäre ein massiver Schuldenerlass der Reset-Knopf für die Gesellschaft. Man würde zugeben: Okay, das Geld ist nicht das, was wir dachten, lasst uns von vorn beginnen.

Sie sagen, man muss Schulden machen, wenn man ein Leben leben will, das über das bloße Überleben hinausgeht. In Deutschland kollidiert das mit den Ansichten der schwäbischen Hausfrau ...
… die sparsam sein kann, weil sie ihre Regierung nicht aktiv daran hindert. In den USA ist das ganz anders. Dort gibt es diese enge Verflechtung des Staates mit den Interessen der Finanzindustrie. Dadurch ist die Verschuldung einer Mehrheit der Bürger unvermeidlich. So werden ständig neue Ausbildungsnachweise gefordert, wenn man als Apotheker oder Krankenschwester arbeiten will. Man muss teure Schulen besuchen, die man nur bezahlen kann, wenn man teure Kredite aufnimmt. Ideologisch funktioniert dieses Ideal der Sparsamkeit nach dem Modell einer absoluten Autonomie: ein isoliertes Individuum, dessen soziale Beziehungen allein durch Geld vermittelt sind und das akribisch darauf achtet, dass seine Beziehungskonten immer ausgeglichen bleiben. Das führt zu sehr reduktionistischen, emotional unbefriedigenden zwischenmenschlichen Beziehungen.

Aber auch die Vorstellung, dass wir mit unserer Geburt der Gemeinschaft – der Nation – etwas schulden und diese Schuld abtragen müssen, indem wir etwa Militärdienst ableisten, hat negative Folgen. Sie ist die Basis von Nationalismus und Krieg. Wir müssen uns also von beiden Vorstellungen zugleich freimachen.

Wie könnte das geschehen?
Die Netzwerke der zwischenmenschlichen Beziehungen, unsere Bindungen zu einem Ort, zu unseren Freunden, ja, auch zur Menschheit können und sollten nicht quantifiziert werden. Unser ganzes Leben besteht aus Versprechen, die wir anderen machen, und Verpflichtungen, die wir mit anderen eingehen und die niemals ganz eingelöst werden können. Wir schulden anderen alles, aber niemand außer uns selbst kann uns sagen, wie wir diese Schuld zurückzahlen sollen.

Sie preisen die Armen, die sich ihrem Schicksal ergeben haben und nichts mehr tun. Für Sie sind das die wahren Pioniere einer neuen Wirtschaftsordnung. Was machen sie richtig, was all die leistungsorientierten Marktakteure falsch machen?
Ich will damit bewusst eine bestimmte Arbeitsmoral herausfordern, die wir alle tief verinnerlicht haben wie etwas tief Religiöses. Sie lässt sich auf den jüdisch-christliche Glauben zurückführen, dass Arbeit eine reinigende Kraft besitzt, dass alle, die sich nicht einer Arbeitsdisziplin unterwerfen, niemals zu reifen, selbstbeherrschten Individuen werden. Diese Vorstellung geht von einer chaotischen, undisziplinierten menschlichen Natur aus. Nur die Arbeit könne uns erlösen. Das hat extrem negative Konsequenzen.

Aber welche Konsequenzen wären denn das?
Keynes sagte bereits vor 80 Jahren, dass wir alle zu Beginn des 21. Jahrhunderts nur noch vier Stunden täglich arbeiten würden. Tatsächlich könnte der technologische Fortschritt unsere Arbeitszeit in dieser Weise reduzieren. Was uns daran hindert, ist die verinnerlichte Vorstellung vom moralischen Wert der Arbeit. Angesichts der Krise werden wir gar aufgefordert, noch mehr zu arbeiten, obwohl das Einzige, was uns retten könnte, weniger Arbeit wäre. Dass sie vorübergehend den Ausstoß von Kohlendioxid verringerte, war eine der wenigen guten Seiten der Rezession von 2008. Ein großer Teil der Arbeit entsteht überhaupt erst dadurch, dass wir zu viel arbeiten. Ich provoziere bewusst, aber hier kommt noch einmal der Schuldenerlass als gesellschaftlicher Reset ins Spiel. Er würde es uns ermöglichen, die Dinge anders zu ordnen, damit eine nachhaltige Zukunft möglich wird. Warum also nicht ein genereller Schuldenerlass in Verbindung mit dem Vier-Stunden-Tag?


© 2013  der FreitagIcon