Vor bald 500 Jahren kam es im westfälischen Münster mit dem Wiedertäuferreich des Jan van Leyden zu einem legendären Ausbruch des Massenwahns mit Vorbildcharakter für spätere historische Ereignisse.

Die verschiedenen und zeitlos gültigen Entwicklungsstadien gesellschaftlicher Wahnvorstellungen lassen sich an den damaligen Ereignissen modellhaft studieren. Auch starke Parallelen zum Hier und Heute der Willkommenskultur sind nicht zu übersehen – dies nicht allein mit Blick auf die einzelnen Entwicklungsstadien des Wahns, sondern auch mit Blick auf zugrunde liegende christliche Glaubensmotive.

Natürlich vergröbert ein Modell stets – es vereinfacht, läßt viele Details weg. Doch auch darin kann ein Nutzen liegen. Wir unterstellen damit selbstverständlich nicht, daß das Wiedertäuferreich und das Reich der Willkommenskultur etwas Ähnliches oder Vergleichbares gewollt haben, aber wir behaupten, daß sie ihr Jeweiliges auf ähnliche und vergleichbare Weise gewollt haben bzw. immer noch wollen. Betrachten wir zunächst kurz die Entwicklungsstadien, wie sie am Modell von 1534 ablesbar sind.

Erstes Stadium: Neue Ideen über das Schicksal und die Bestimmung des Menschen tauchen auf und lösen Beifall und Begeisterung aus; sie finden erste Anhänger in tonangebenden gesellschaftlichen Schichten (besonders die Rolle der Frauen als Multiplikatoren und soziale Katalysatoren verdient besondere Beachtung), werden von diesen zur staatstragenden Ideologie promoviert. In dieser Phase kann es noch Opposition geben. Die Opposition wird entweder rein konservative Standpunkte vertreten und zum „Davor“ zurückkehren wollen oder – prinzipiell aufgeschlossen für Neues – nicht den Wunsch nach Veränderung generell in Frage stellen, sondern nur die konkreten Axiome der neuen Ideologie anzweifeln und durch andere ersetzen wollen. Beide Formen der Gegnerschaft haben deutliche Schwächen. Der rein konservative Standpunkt hat wenig vorzuweisen, was Beifall und Begeisterung auslösen könnte – er vertritt das überständig gewordene Alte, sieht es unkritisch und macht sich allein durch diese fehlende Distanz unglaubwürdig. Der rationale Widerspruch hingegen kommt mit seinen Zweifeln an den Axiomen meist zu spät und richtet sich als Theoriekritik überdies vor allem an intellektuelle Kreise – der Funke springt nicht auf diejenigen über, die Bewegung auslösen und kontrollieren. Überdies fehlt es dem rationalen Widerspruch an echter eigener Überzeugungskraft. Gehen die neuen Ideen mit religiösen oder quasi-religiösen Schuldmotiven und daraus resultierend einem Aufruf zur Buße einher, wird jede Art des Widerspruchs vor allem von moralischer Seite aus be- und verurteilt werden.

Zweites Stadium: Die neuen Ideen erlangen den Status welterklärender Universalien, wer sich nicht fügt, wird bedroht, aus der Gemeinschaft der Gläubigen ausgeschlossen und verfolgt – ein totaler (und in der Folge totalitärer) Sieg des guten Gewissens und der herrschenden Moral. Der Unterschied zwischen weltlicher und religiöser Ideologie verschwindet – auch eine im Kern weltliche Ideologie trägt Züge von Heilsversprechen und Endzeiterwartung, das gesellschaftliche Klima ist zunehmend durch Hysterie gekennzeichnet. In dieser Phase ist es für die neue Lehre entscheidend, Erfolge vorweisen zu können – sei es, daß Vorhersagen eintreten und Versprechungen erfüllt werden, sei es, daß einem eventuell von außen wachsenden Widerstand fremder Mächte Paroli geboten wird. Es wird Stärke demonstriert – nach innen wie nach außen. Der Erfolg wird zum Ausweis der Zustimmung höherer Mächte bzw. der Bestätigung der Erfüllung eines geschichtlichen Auftrags.

Drittes Stadium: Die zur totalen Herrschaft gelangten Ideen radikalisieren sich notwendigerweise, wenn – was früher oder später zwangsläufig eintreten wird – Prognosen sich nicht bewahrheiten und Versprechungen im weiteren Verlauf gebrochen werden, die Gläubigen zu murren beginnen und eventuell zusätzlich ein starker Druck von außen die Binnenverhältnisse erschwert (im Wiedertäuferreich waren dies Hungersnöte infolge der anhaltenden Belagerung). Es kommt zu Exzessen (im Wiedertäuferreich: Vielweiberei, orgiastische Ausschreitungen, Verbot von Privateigentum, weitgehende Verwahrlosung, willkürliche öffentliche Hinrichtungen).

Endstadium: Der Zusammenbruch entweder durch äußeren Druck oder durch wachsende innere Unzufriedenheit ist nicht zu verhindern. Manch einer aus dem erweiterten Führungszirkel überlegt bereits, ob und wie die eigene Haut zu retten sein wird. Der innere Kern wird den Machtanspruch nun noch radikaler aufrechtzuerhalten bemüht sein. Das dem Zusammenbruch folgende Strafgericht trifft einerseits auf Reue, Verzweiflung und Bitte um Gnade, andererseits auf Verstocktheit und unbeirrtes Festhalten an der Ideologie.

Das heutige Reich der Willkommenskultur dürfte sich in der vollentwickelten ersten Phase befinden – das zweite Stadium ist mancherorts bereits betreten, das dritte als Ahnung präsent. Selbstverständlich lassen sich die Verhältnisse im Münsteraner Wiedertäuferreich nicht ohne weiteres auf die Willkommenskultur unserer Tage übertragen (selbst einer zwielichtigen Gestalt wie dem Täuferkönig Jan van Leyden kann man im Vergleich zum politischen Personal unserer Tage eine gewisse tragische Größe nicht absprechen), doch sowohl im Münsteraner Wiedertäuferreich als auch im Reich Willkommenskultur findet eine teils explizite, teils eher verdeckte Inanspruchnahme christlicher Lehren statt. Das eine Motiv ist der Schuld-Buße-Komplex, das andere die heilsgeschichtliche Dimension. Es geht hier übrigens nicht darum, das Christentum auf billige Weise zur Verantwortung zu ziehen – es geht einzig und allein darum, den Blick für die Mißbrauchsanfälligkeit des christlichen Glaubens zu schärfen – Figuren wie der fleischgewordene Kardinalfehler Woelki sind nicht von ungefähr einer christlichen Kirche zugehörig. Welche Schlüsse aus der Mißbrauchsanfälligkeit zu ziehen sind, bliebe einer gesonderten Erörterung vorbehalten.

Die gesamte Willkommenskultur ist nicht denkbar ohne einen tiefverwurzelten, auf christliche Glaubensmotive zurückgehenden Schuldkomplex. Ohne den Rückgriff auf dieses letztlich christliche Fundament hätte die konzeptionell ansonsten wesentlich durch die intellektuellen Dürftigkeiten der Frankfurter Schule gestaltete Re-Education der Nachkriegszeit niemals diese verheerenden Folgen auf den Geisteszustand mehrerer Generationen haben können. Da ist Tieferwirkendes und seit langer Zeit Anhaltendes im Gange. Die Grundlage ist das Schuldigsein schlechthin, die Re-Education sprach dem Deutschen lediglich ein besonderes Maß der Schuld zu. Das laute „Tuet Buße!“ war auch in den Straßen Münsters zur Zeit der Wiedertäufer allgegenwärtig. Buße getan werden sollte angesichts des unmittelbar bevorstehenden Tag des Jüngsten Gerichts. An das Jüngste Gericht glaubt wahrscheinlich keiner der heutigen Eiferer und Geiferer oder Sachwalter der Willkommenskultur ernsthaft. An den rein institutionellen Akt der Buße dafür um so mehr. Weil der Mensch – im Besonderen der Mensch der westlichen Zivilisation und unter denen wiederum ganz besonders der deutsche – von Grund auf verdorben ist, kann die Buße gar nicht weit genug gehen. Schuldig gemacht, versündigt hat man sich heute nicht am biblischen Gott, sondern an den Menschen Afrikas und Asiens. Die werden nun in ihrer Gesamtheit zu gottähnlichen Wesen erhoben – das Kölner Flüchtlingsboot wird zur Reliquie, zum anbetungswürdigen Gegenstand: heiliger Gral, Holzkreuz, Dornenkrone, Leichentuch und heilige Lanze in einem. Die Buße geht dabei wie weiland im Wiedertäuferreich auch im Reich der Willkommenskultur bis über die Grenzen der Selbstaufgabe hinaus. Man geißelt sich bis aufs Blut, bietet das Eigene dar, die komplette Selbstentäußerung und Selbstverleugnung ist das Gebot der Stunde. Die Teilnahme an den Glaubensritualen ist keine Angelegenheit individuellen Ermessens, sondern eine Frage von Gut und Böse. In Glaubensdingen ist nun einmal das Bestreben, das Böse mit Stumpf und Stiel auszurotten, mehr als nur latent vorhanden. Daher auch der gutmenschliche Fanatismus, dieser sich überschlagende Glaubenseifer mit Schaum vor dem Mund – zu keiner Sekunde zweifelt er daran, dem Guten zu dienen.

Weil es im Reich der Willkommenskultur um Gut und Böse, um Heil und Verdammnis geht, ist es auch nicht falsch, ihm eine heilsgeschichtliche Intention zu unterstellen. Die säkularisierte Analogie zum Reich Gottes ist die „Eine Welt“, in der Hungersnöte, Kriege und Ressourcenknappheiten für alle Ewigkeit ausgeschaltet sind. Auch hier geht es um einen moralisch unterfütterten Absolutheitsanspruch im Name des Guten – jeder, der sich ihm entgegenstellt, stellt sich auf die Seite des Bösen. Deswegen ist es auch so gut wie unmöglich, einen konstruktiven und rationalen Dialog zu führen – der Diskurs ist mehr noch als zu früheren Zeit die theologische Disputation ein Herrschaftsinstrument und keinesfalls ergebnisoffen.

Die spannende Frage ist nun, ob das Münsteraner Modell des Wiedertäuferreichs auch Prognosen hinsichtlich der weiteren Entwicklung im Reich der Willkommenskultur zuläßt. Wenn wir uns derzeit tatsächlich erst im ersten Stadium der Wahnentwicklung befinden sollten, stünde die eigentliche Steigerung des Schreckens mit all ihren Exzessen noch bevor – die vielfältigen Anzeichen für einen Stimmungsumschwung (Wahlprognosen, zaghafte Ansätze zu einer offeneren Diskussion in diversen Medien, noch zaghaftere Bekundungen der offiziellen Politik, auf die Gegenseite zugehen zu wollen) wären dann lediglich ein Zwischenspiel à la „Prager Frühling“ im Gartenzwergformat und nicht mehr als eine optische Täuschung. Bei einer Präzisierung der Prognose wäre auch auf die Frage einzugehen, inwieweit äußere Mächte bei der künftigen Entwicklung eine Rolle spielen könnten.

Das Münsteraner Wiedertäuferreich jedenfalls endete bekanntermaßen in einem Blutbad und einer anschließenden Restauration. Nachdem die bischöflichen Truppen durch Verrat in die Stadt gelangt waren, fielen sie über die durch Monate des Hungers weitgehend ausgezehrten Wiedertäufer her. Lediglich die Führung, unter ihnen der Täuferkönig Jan van Leyden (auch als Johann Bockelson bekannt), wurde nicht an Ort und Stelle getötet. Man machte ihnen, nachdem man sie eine Weile wie eine satanistische Freakshow durchs Land gekarrt hatte, den Prozeß. Nach der Hinrichtung wurden die sterblichen Überreste in eisernen Käfigen in luftiger Höhe über Münsters Prachtstraße am Kirchturm von St. Lamberti aufgehängt – späteren Generationen zur steten Mahnung.

Wer sich selbst ein Urteil hinsichtlich des Modellcharakters und möglicher Prognosen bilden möchte: Ein passable und kurzweilige Schilderung der Ereignisse in Münster bietet Bockelson. Geschichte eines Massenwahns.