Kann man von guten Zahlen leben? Versuchen kann man's jedenfalls, meinen Bundesregierung und Mainstream-Presse und präsentieren uns immer mehr Jubelzahlen: Der Aufschwung ist da, die Arbeitslosigkeit sinkt, daß einem schwindlig wird, und die Inflationsrate geht zurück.
Schließlich kann man ja auch von Placebos gesund werden. Oder die bittere Medizin wenigstens in reichlich Zucker verpacken.
Wie man das macht? Na, zum Beispiel so, wie die Nachrichtenagentur Reuters: »Inflation in Deutschland schwächt sich im April ab«, meldete sie am 15. Mai in einer dicken Headline. Um gleich darauf im ersten Satz zu behaupten: »Den deutschen Verbrauchern ist im April ein neuerlicher Teuerungsschub erspart geblieben.«
Toll. Aber wie das? Nun: »Die Verbraucherpreise stiegen um 2,4 Prozent im Vergleich zum Vorjahresmonat, bestätigte das Statistische Bundesamt am Donnerstag eine frühere Schätzung«, so Reuters. »Im März hatte die Teuerungsrate noch 3,1 Prozent betragen. Im Vergleich zum Vormonat gaben die Preise sogar um 0,2 Prozent nach.«
Nun gibt es ja eine goldene journalistische Regel: Das Wichtigste am Anfang. Um der lieben Propaganda Willen hat man diese Regel hier glatt auf den Kopf gestellt. Denn die eigentliche Nachricht wird ganz ans Ende des Artikels verschoben. Auch im nächsten Absatz darf der Leser nur erfahren, was alles billiger geworden ist: Urlaubsreisen zum Beispiel (um 7,4 Prozent).
Erst im 3. Absatz erfährt das verbliebene Häuflein Leser, was gegenüber dem Vorjahr alles teurer wurde (Ausnahme: Gemüse), nämlich
- Brot und Getreideprodukte um 8,8 Prozent,
- Molkereiprodukte wie Milch oder Butter um 24 Prozent,
- Benzin und Diesel um 5,8 beziehungsweise 17,2 Prozent.
Schlimm. Aber noch gar nichts gegen das, was man in der Reuters-Meldung überhaupt nicht findet: Die Teuerungsrate für ein so zentrales Produkt wie leichtes Heizöl zum Beispiel. Leichtes Heizöl ist so lebenswichtig wie Strom. Die Wahrheit ist: Leichtes Heizöl wurde gegenüber dem Vorjahr glatt um fast 40 Prozent (38,9) teurer.
Sagen Sie mal: Wäre DAS nicht die Schlagzeile gewesen! Nichts da. Denn da hätte es ja noch ganz andere Schlagzeilen gegeben, nämlich die Teuerungsraten für so zentrale Produkte wie
- Speisefette und -öle (+16,7 Prozent),
- Nudeln (+26,6 Prozent),
- Vollmilch (+31 Prozent),
- Quark (+47,2 Prozent).
Alles innerhalb eines Jahres, wohlgemerkt.
Womit der erste Satz des Reuters-Artikels widerlegt wäre: In Wirklichkeit ist uns ein »neuerlicher Teuerungsschub« keineswegs erspart geblieben. Vielmehr hat die Inflation in zentralen Bereichen nie dagewesene Werte erreicht. So rum wird ein Schuh draus, und das wäre die korrekte Nachricht gewesen.
Wie die Medien die in Wirklichkeit horrenden Teuerungsraten von bis zu 47 Prozent schön reden und schreiben, habe ich am Beispiel der Nachrichtenagentur »Reuters« im ersten Teil vom 19. Mai 2008 berichtet. Aber wie gehen die Bundesregierung und ihre Statistiker mit den teilweise enormen Teuerungsraten um? Ihre Antwort: Mit der Wahrnehmung der Bürger kann etwas nicht stimmen.
»Das Statistische Bundesamt hat Wissen und Zeit seiner Preisstatistikexperten investiert, um besser zu verstehen, wieso es zu Unterschieden zwischen subjektiver Inflationswahrnehmung und amtlich ermittelter Teuerung kommen kann.« Bewundernswert. Und die Antwort? Schuld ist natürlich der Verbraucher beziehungsweise seine »subjektive Wahrnehmung«. »Erstens werden Preissteigerungen höher bewertet als Preissenkungen. Zweitens schlägt es in der Wahrnehmung besonders zu Buche, wenn häufig gekaufte Produkte teurer werden. Und drittens vergleichen die Konsumenten die aktuellen Güterpreise nicht immer mit den Preisen von vor genau einem Jahr, sondern oft auch mit Preisen, die weiter als ein Jahr zurückliegen.«
Er ist halt ein bisserl schlicht, der Verbraucher, und nicht so genau wie die »amtlichen« Statistiker. In Wirklichkeit ist es genau umgekehrt. Der Durchschnitts-Teuerungswert (im Volksmund: »Inflationsrate«) der Statistiker besagt nur wenig über die realen Lebensbedingungen. In Wirklichkeit werden zum Teil horrende Preissteigerungen in einem »Warenkorb« mit 600 bis 700 Produkten und Dienstleistungen versteckt und eingestampft. Der Begriff »Warenkorb« suggeriert nur, hier handele es sich um jenen Einkaufskorb oder -wagen, den Sie täglich aus Tengelmann, Plus oder Aldi schleppen bzw. fahren.
Aber in Wirklichkeit handelt es sich dabei nur um Etikettenschwindel, denn der statistische und Ihr realer Warenkorb sind zwei ganz verschiedene Warenkörbe. Da können Preise für Grundnahrungsmittel innerhalb eines Jahres durchaus mal um 26,6 Prozent (Nudeln), 31 Prozent (Vollmilch) oder 47,2 Prozent (Quark) in die Höhe schnellen, verdünnt mit Hunderten von anderen Produkten und Dienstleistungen kann die Teuerungsrate – wie zuletzt im April 2008 – sogar sinken. Das heißt: Während Sie ihren Einkaufswagen mit, sagen wir, 30 Grundnahrungsmitteln zu Ihrem Kofferraum schieben und zu Hause die Strom- und Gasrechnung aus dem Briefkasten klauben, stopft Vater Staat einen ganzen LKW zusätzlich zum Beispiel mit Videorekordern, Fernsehern, Faxgeräten, Computern, Foto- und Filmausrüstungen, Reiseverträgen und Flugtickets voll und fragt: »Was haben Sie denn? Hier kann man doch echt billig einkaufen!«
Genau das ist der Unterschied zwischen statistischer und realer Teuerung. Dieses Verhältnis wird von der Regierung und den Medien dauernd auf den Kopf gestellt. Es wird nämlich so getan, als sei der statistische Wert der einzig wahre, der die reale »Inflation« (also Teuerungsrate) wiedergebe, während es sich bei dem, was der Verbraucher erlebt, nur um eine »gefühlte«, um nicht zu sagen: eingebildete Teuerung handele. In Wirklichkeit ist es genau umgekehrt: Die statistische Teuerungsrate ist ein absolut künstlicher Wert, der niemandem etwas bringt, so ähnlich wie die Durchschnittstemperatur auf dem Globus. Die ist verdammt angenehm, nämlich etwa 15 Grad, denn mitgerechnet werden bei der Durchschnittstemperatur auch Tropen und Wüsten. Würde ich diese Durchschnittstemperatur aber als Maßstab für meine Bekleidung nehmen, könnte ich sterben. Denn trotz 15 Grad globaler Durchschnittstemperatur würde ich mir am Nordpol oder im europäischen Winter den Allerwertesten abfrieren.
Zwar wird in dem amtlichen »Warenkorb« nicht jeder Posten gleich bewertet; vielmehr werden zentrale Produkte und Dienstleistungen höher »gewichtet«. Diese Gewichtung ist aber nur ein laues Zugeständnis an die Realität, damit sich die Statistik nicht gleich selbst ad absurdum führt. Erstens ist die Gewichtung nur ein mehr oder weniger unzureichendes Modell für die Wirklichkeit. Und zweitens sorgen steigende Preise für eine partielle Selbstregulierung der Teuerungsrate. Werden zum Beispiel lebenswichtige Produkte teurer, kann der Preis für weniger lebenswichtige wie Urlaubsreisen automatisch sinken. Ganz einfach, weil die Nachfrage zurückgeht. Zu behaupten, die Bürger würden bei steigenden Lebensmittelpreisen in anderen Bereichen dafür »entlastet«, ist glatte Augenwischerei, denn irgendwann können sich die Bürger die anderen Bereiche erst gar nicht mehr leisten. Denn »je teurer Energie, Milchprodukte, Nahrung etc. werden, desto weniger hat der Verbraucher für andere Ausgaben übrig«, so der Finanzexperte Michael Mross. "Manche Preise fallen zwangsläufig, weil der Konsument sie sich nicht mehr leisten kann." Ergebnis ist ein ausgeglichener(er) Teuerungswert. Eine gute Nachricht ist das vielleicht für die Bundesregierung, nicht aber für die Bürger.
Schauen wir uns mal den Verbraucherpreisindex für Deutschland genauer an. Da sanken im April 2008 die Preise zufällig genau in solchen Bereichen, in denen Viele sparen würden, wenn das Geld knapp wird. Zum Beispiel bei Freizeit und Unterhaltung sowie bei »Beherbergungs- und Gaststättendienstleistungen«, also zum Beispiel Ferienwohnungen und Pauschalreisen. Alles Sachen, auf die die Meisten notfalls verzichten können.
Mit anderen Worten: Während die Preisentwicklung asymmetrisch wird, bleibt die »Inflationsrate« gleich oder sinkt sogar. Während es sich bei der Statistik nur um einen Mittelwert handelt, der sich ständig auch noch selber reguliert und glättet, ist die reale Teuerung die, mit der der Verbraucher am Lebensnerv seiner täglichen Grundbedürfnisse getroffen wird. Würde man einen Warenkorb der Grundbedürfnisse zusammenstellen, würden die Energie- und Lebensmittelpreise die Teuerungsrate wahrscheinlich auf zehn bis 20 Prozent hochtreiben – wenn nicht mehr.