Neues zu alten Rechnern und 1000 Jahre Straßburger Münster
Ob in Straßburg, Hannover oder Zürich, überall machen wiederaufgetauchte alte oder mühevoll rekonstruierte Rechner von sich reden. Hinzu kommen bislang unbekannte Konstruktionszeichnungen und interessante Dokumente – und was haben historische Rechner mit dem Straßburger Münster zu tun?
Kurz vor Weihnachten 2014 stöberte der Schweizer Informatiker, Technikhistoriker und Dozent i. R. der ETH Zürich, Herbert Bruderer im Depot des Straßburger Historischen Museums – neben zwei Vormodellen und mechanischen Zählern – eine eigenartige mechanische Rechenmaschine auf, deren Existenz zwar einigen Historikern bekannt, aber ansonsten weitgehend in Vergessenheit geraten war.
Ansicht auf die Walzen von Schwilgue’s großer Rechenmaschine (Bild: Historisches Museum Straßburg)
Der Konstrukteur dieser großen Addiermaschine war niemand anderes als Jean-Baptiste Schwilgué (1776–1856), der bedeutende französische Uhrmachermeister, der von 1838 bis 1842 die astronomische Uhr des Straßburger Münsters konstruiert hat, die dritte im Verlauf der nunmehr 1000-jährigen Geschichte der Kathedrale. Die astronomische Uhr ist neben der von Besançon wohl die bedeutendste – und sie läuft heute noch.
Am Heiligen Abend vor 170 Jahren hatte Schwilgué sein Patent für eine mechanische Addiermaschine und einen allgemeinen mechanischen Zähler angemeldet. Seine Rechenmaschine gilt als das älteste erhaltene Addiergerät, bei dem sich die Zahlen über eine Tastatur eingeben lassen. Bisher waren nur zwei Modelle bekannt; ein nicht betriebsbereites aus dem Jahre 1846 befindet sich ebenfalls in Straßburg. Es wurde vor Jahren von den Nachfahren der Ingenieure Ungerer, die später das Schwilgué-Unternehmen übernommen hatten, dem Straßburger Kunstgewerbemuseum übergeben und gelangte erst 2014 an das Straßburger Historische Museum.
Schon vor einem Jahr hatte Bruderer im Fundus der 1980 außer Betrieb gegangenen eidgenössischen Sternwarte eine gut erhaltene, funktionsbereite Tastenaddiermaschine von Schwilgué aus dem Jahre 1851 wiederentdeckt sowie ein frühes Exemplar eines Thomas-Arithmometers. Dieses Arithmometer, gebaut von dem Versicherungsunternehmer Thomas de Colmar (1785 – 1870) aus Paris, war die weltweit erste, erfolgreiche und in Serie gefertigte (mechanische) Rechenmaschine. Sie beruht auf dem Prinzip der Leibniz-Rechenmaschine, deren einzig erhaltenes Original sich in der Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek in Hannover befindet und dort behütet wird wie ein Augapfel. Erst vor Kurzem, Ende November 2014, wurde das Original erstmals der Öffentlichkeit präsentiert.
Leibniz und Schwilgué
Die mühevoll nachgebaute Leibniz-Chiffriermaschine (Bild: G. Rottstedt)
Und nun Mitte Januar 2015 wurde an der hannoverschen Leibniz-Universität im Rahmen der Leibniz-Dauerausstellung auch ein Nachbau der Machina Deciphratoria – ein weniger bekannter Vorläufer der Enigma – präsentiert. Von der zu Leibniz-Zeiten gar nicht gebauten Verschlüsselungsmaschine haben Ingenieur Klaus Badur und Feinmechaniker Gerald Rottstedt in fünfjähriger Kleinarbeit nach den alten Konstruktionszeichnungen zwei funktionierende Exemplare fertiggestellt. Das Team hatte vorher auch schon Leibniz’ Rechenmaschine rekonstruiert.
Bruderer forschte inzwischen weiter und fand nun heraus, wozu Schwilgué die selbstentwickelte Rechenmaschine benötigt hatte, nämlich zum Einstellen der hochpräzisen Zahnradfräsmaschine, die Schwilgué schon um 1825 eigens für die Anfertigung gewisser Räder der astronomischen Uhr gebaut hatte. Damit hatte er sozusagen den ersten Prozessrechner und die erste numerisch per Papierstreifen gesteuerte Fräsmaschine. Denn die mechanisch errechneten Zahlenfolgen schrieb er von Hand auf ein Papierband, das in einem Kästchen um zwei Rollen gewickelt war. Dank Griffen ließen sich die Rollen nach jedem Arbeitsgang vorwärts schieben. Durch ein Glasfenster konnte man drei aufeinanderfolge Ziffern des Papierstreifens lesen.
J. & A. und Tomi Ungerer
Mit Hilfe dieser Fräsmaschine kann man gerade Stirn-, Kegel- und Schneckenräder herstellen. Dank ihrer beeindruckenden Präzision von deutlich unter einem Mikrometer (ein Zehnmillionstel des Trommelumfangs) war die Zahnrad-Fräsmaschine noch lange bei den Werkstätten von J. & A. Ungerer für bestimmte Zahnräder in Betrieb. Sie wurde allerdings dann von einem Elektromotor angetrieben und nicht mehr wie zu Schwilgué-Zeiten via Handschwungrad.
Aus der Straßburger Uhrmacherfamilie stammt übrigens nicht nur unser Kollege von der iX-Redaktion Bert Ungerer, sondern auch der bekannte französische Schriftsteller, Grafiker und Karikaturist Tomi Ungerer, der angesichts der brutalen Attentate in Paris nun zu Ehren der Opfer eine Ausstellung im Straßburger Ungerer Museum organisiert hat, die alle Titelbilder des Satire-Magazins „Charlie Hebdo“ zeigt.
Daneben gibt es in diesem Jahr in Straßburg zahlreiche Feierlichkeiten zum „millénaire des fondations de la cathédrale de Strasbourg“, welche 2015 ihr tausendjähriges Jubiläum feiert. Passend dazu soll im Herbst 2015 das Buch „Meilensteine der Rechentechnik: Zur Geschichte der Mathematik und der Informatik“ von Bruderer herauskommen, natürlich verziert auf der Titelseite mit dem Züricher Exemplar der berühmten Rechenmaschine des Straßburger Uhrmachermeisters Schwilgué.
Ermeth und Curta
Geprägt von Pleiten, Pech und Pannen, der erste in der Schweiz entwickelte Computer Ermeth
Bruderer ist unter anderem auch Autor des Buches „Konrad Zuse und die Schweiz“, in dem er auch auf die Frage eingeht, wer denn nun den Computer erfunden hat – es sind halt mehrere. Für das Buch hat er viele Fakten aus dem Hochschularchiv der ETH und anderswo aufgespürt, etwa über Zuses Rechenlocher M9. Die ETH Zürich sorgte nämlich mit dem fünfjährigen Mietvertag von 1950 bis 1955 für Zuses über den Krieg gerettete Z4 für die Anschubfinanzierung der Zuse KG. Hinzu kam ein Anschlussauftrag der Züricher Remington Rand für über 20 Stück M9.
Liebevoll Pfeffermühle getauft: die Curta 1 von Curt Herzstark (Bild: Liechtensteinisches Landesmuseum, Vaduz, Sven Beham)
In dem Buch geht er auch auf die erste Eigenentwicklung einer elektronischen Rechenmaschine an der ETH namens Ermeth ein; ein Rechner mit 1500 Röhren und Magnettrommelspeicher, der über eine Millionen Franken verschlungen hat und der jetzt im Berner Museum für Kommunikation steht. Inzwischen ist die 50-jährige Schutzfrist abgelaufen und die nunmehr freigegebenen Dokumente aus dem Archiv der ETH-Bibliothek offenbaren ein buntes Panorama von Pleiten, Pech und Pannen rund um den Rechner – kein Wunder also, dass man die Dokumente lieber verschloss.
Neue Dokumente sind auch aus dem Nachlass des Österreichers Curt Herzstark aufgetaucht, vor allem Konstruktionszeichnungen, die er, als Halbjude ins KZ Buchenwald gesperrt, für die kleinste mechanische Universalrechenmaschine Liliput, später Curta getauft, angefertigt hatte. Die Nazis hatten seine Fähigkeiten erkannt und ließen ihn an Rechenmaschinen tüfteln, die sie unter anderem für die Herstellung von feinmechanischen Teilen für die V2-Raketen gebrauchen konnten. Herzstark schaffte es dank seiner kriegswichtigen Position sogar, einige Mithäftlinge vor dem Tod zu bewahren. Er überlebte das Lager und gründete nach dem Krieg nach einigen Wirren in Liechtenstein die Cortina AG, die die mit einer Kurbel betriebene Curta herstellte. Die bis 1971 gefertigte legendäre Curta, liebevoll „Pfeffermühle“ getauft, wurde über 140 000-mal hergestellt. Auf eBay findet man gelegentlich Angebote so zwischen 500 und 1000 Euro. (Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!)