Kapitel 38
Ein kleines, fernes Land
Im vierten Jahrzehnt unseres Jahrhunderts, als in Washington „The Chief“ und in Berlin „Der Führer“ regierte, verschwand Palästina weitgehend aus den Schlagzeilen. Die dortige Lage verschlechterte sich immer mehr, und die britische Regierung war schließlich drauf und dran, die Hoffnungslosigkeit der Aufgabe einzusehen, die ihr Balfour aufgehalst hatte, und das Handtuch zu werfen. (Balfour war übrigens Anno 1930 gestorben, nachdem er auf dem Totenbett Abschied von Dr. Weizmann genommen hatte.) Doch am Vorabend eines neuen Weltkriegs verpflichtete sich ein Winston Churchill dafür zu sorgen, dass Großbritannien seine Mission in Palästina zu Ende führte. Das englische Volk, das meinte, sein einziger Feind sei Hitler, zog abermals in den Krieg, ohne zu ahnen, für wessen Ziele dieser eigentlich geführt werden sollte. Zu diesen Zielen gehörte nicht zuletzt jenes, das England 1918 an den Rand einer Niederlage gebracht hatte (auch hiervon wusste die Bevölkerung Grossbritanniens nichts).
Mehrere aufeinanderfolgende britische Regierungen fanden sich in dieser Angelegenheit in der Lage eines Zirkusclowns wieder, der es einfach nicht fertig bringt, den ihm angehefteten Fliegenfänger abzustreifen; immer wenn sie meinten, sich endlich von diesem lästigen Ding befreien zu können, klebte Dr. Weizmann es an einem anderen Ort fest. In Palästina konnten die mit der Verwaltung des „Mandats“ betrauten britischen Beamten und Soldaten ihre Pflicht nicht erfüllen. Die Araber rebellierten hartnäckig weiter, und die Zionisten in London übten massiven Druck auf die dortige Regierung aus, um sie zur Anwendung von Gewalt gegen die Aufrührer zu veranlassen. Wenn die für die Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung in Palästina verantwortlichen Männer versuchten, unparteiisch zwischen den beiden Seiten zu schlichten, warfen ihnen die Politiker aus London Knüppel zwischen die Beine.
Die Resultate der britischen Politik in den Überseegebieten beweisen unserer Ansicht nach, dass sie in jedem Fall außer dem vorliegenden vernünftig war. In den dünn besiedelten Gebieten, welche die Briten erschlossen, gründeten sie freie Staaten; in den dicht besiedelten, die sie unterwarfen, verwirklichen sie vor unseren Augen ihr (oft ironisch belächeltes) Versprechen, das zivilisatorische Niveau der Eroberten zu heben und dann abzuziehen; Indien ist nur einer von mehreren Beweisen hierfür. Doch im Falle Palästinas setzte sich die britische Verwaltung über sämtliche anderswo befolgten Regeln hinweg und schlug alle anderswo gesammelten Erfahrungen in den Wind. Dies tat sie unter dem Druck aus London – oder aus anderen Hauptstädten, wenn sich London einmal querlegte.
Unter diesen Umständen waren die nach Palästina entsandten britischen Beamten und Truppen die unglücklichsten in der Geschichte des Landes. (Bezeichnenderweise war der einzige Mann, der nach ihrem Abzug öffentlich geehrt wurde, ein Verräter.) An und für sich wussten die Engländer sehr wohl, wie man ein echtes „Protektorat“ regiert; dieser Ausdruck kann sowohl ehrlich als auch missbräuchlich verwendet werden (ein Beispiel für letzteres bot das von Hitler gegründete „Protektorat“ über die Tschechei). Eine Fremdherrschaft, die von der einheimischen Bevölkerung gewünscht oder sogar aktiv herbeigeführt wird, kann etwas höchst Begrüßenswertes sein. Ein solches echtes „Protektorat“, Basutoland, kenne ich aus eigener Erfahrung. Dort haben die Briten die Kontrolle auf Ersuchen der Basuto übernommen, mit dem Ergebnis, dass diese als freie Nation überlebten; ohne die britische Intervention wären sie von stärkeren Nachbarstämmen versklavt worden. Ihr heutiges Schicksal, und ihre Aussichten für die Zukunft, sind besser als unter allen anderen denkbaren Umständen, und sie sind sich dessen sehr wohl bewusst. Dies ist der Grund dafür, dass einige Dutzend weiße Verwaltungsbeamte über 660.000 Basutos regieren und sich die beiden Seiten gegenseitig respektieren.
Zum ersten Mal in der Geschichte mussten die Briten in Palästina das Volk unterdrücken, zu dessen Schutz sie angeblich gekommen waren, und stattdessen Eindringlinge aus Russland unter ihre Fittiche nehmen. Die mit Balfour einsetzende Unterwanderung der zivilen Macht hatte dies möglich gemacht.
Dass die „zivile“ Macht stets über der militärischen zu stehen habe, ist die oberste Maxime der Verfassung aller westlichen Demokratien. Hierdurch wird dem Aufkommen von Militärdikaturen ein Riegel vorgeschoben. Unterwirft sich die zivile Macht aber dem Diktat einer hinter den Kulissen agierenden dritten Kraft, die militärische Ziele verfolgt, so beugt sie sich de facto unter das Joch einer militärischen Macht, auch wenn es nicht diejenige ihrer eigenen Generäle ist. Die oberste Maxime der Demokratien wird dadurch auf den Kopf gestellt, weil ihre Armee unter diesen Umständen fremde statt eigene Interessen vertritt. Genau dies geschah in Palästina.
Die repressive Politik gegenüber den arabischen „Rebellen“ half den bereits in Palästina ansässigen Zionisten vorerst nicht. Ab Beginn der dreißiger Jahre stärkte Hitlers Aufstieg zwar die zionistische Position in London und Washington, doch dafür wurde die Situation in Palästina selbst für die Zionisten zusehends kritischer. In jenen Jahren dehnte Chaim Weizmann, der seine Bemühungen von 1904 bis 1919 auf die britische Regierung konzentriert hatte, seine Aktivitäten auf zwei neue Zentren aus: Sein Aktionsfeld war nun „Jerusalem, London und Washington“, und er ließ die britischen Premierminister, mit denen er zu tun hatte, nie im Zweifel darüber, wer am längeren Hebel saß.
Sein nächstes Opfer war Ramsay Macdonald, der, nachdem ihn seine sozialistischen Kollegen im Stich gelassen hatten, 1929 zum Premierminister einer aus allen anderen Parteien gebildeten Koalitionsregierung avanciert war. Aus dem jungen Jimmy Macdonald aus dem schottischen Lossiemouth, der trotz seiner bescheidenen Herkunft stürmisch Karriere gemacht hatte, war mittlerweile Ramsay Macdonald geworden, ein Mann mit zerzaustem, ergrautem Haar. Er ernannte seinen Sohn Malcolm Macdonald zum Unterstaatssekretär für die Kolonien; mit diesem Schritt verabschiedeten sich Vater und Sohn gemeinsam aus dem Traumland der hehren sozialistischen Ideale und lernten die harte Wirklichkeit des „unwiderstehlichen Drucks“ kennen. Zum zweiten Mal in seiner Karriere versuchte Macdonald, die endlosen Kämpfe und Aufstände in Palästina, die inzwischen schon vielen Briten das Leben gekostet hatten, zu beenden, und verkündete schon bald, seine Regierung werde der zionistischen Einwanderung sowie regulären zionistischen Landkäufen Einhalt gebieten und Aufstachelung zur Meuterei bestrafen, „von wem sie auch ausgehen möge“.
Macdonald wurde sofort zur Zielscheibe gehässiger Angriffe und trug nun immer öfter jenen besorgten Blick zur Schau, für den er berühmt wurde (und der mir 1935 bei meiner Begegnung mit ihm auffiel). Chaim Weizmann und drei weitere Zionisten verlangten eine Audienz bei ihm und warfen ihm vor, die „moralischen Verpflichtungen, die gegenüber Juden abgegebene Versprechen nach sich ziehen, auf frivole Art und Weise zu ignorieren“ (Weizmann). Führende Politiker in seinem eigenen Land, Amerika und Südafrika entfesselten eine wüste Hetzkampagne gegen den britischen Premierminister. Dieser ließ sich abermals ins Bockshorn jagen und stellte ein Sonderkomitee des Kabinetts auf die Beine, das die „Palästinapolitik“ ein weiteres Mal überprüfen sollte. Zum Vorsitzenden des Komitees wurde ein sozialistischer Minister, Arthur Henderson, ernannt, zu seinem Sekretär Macdonalds Sohn Malcolm. Das Komitee selbst bestand aus Dr. Weizmann und sechs führenden Zionisten; die Araber wurden wie üblich übergangen.
Weizmann verwahrte sich erbost gegen Macdonalds Ankündigung, „Aufstachelung zur Meuterei zu bestrafen, von wem sie auch ausgehen möge“: Für ihn waren an Unruhen, Gewalt und Massakern immer nur die Araber schuld. Macdonald gab abermals klein bei und legte Weizmann schriftlich ein Konzept vor, laut dem die jüdischen Einwanderungsquoten für 1934 und 1935 gegenüber den früheren massiv erhöht wurden.
Nachdem er Ramsay Macdonald den Kamm gestutzt hatte, überkam Herrn Dr. Weizmann unbändige Reiselust. Am Vorabend des Zweiten Weltkriegs war er überall – in Südafrika, in der Türkei, in Frankreich, in Italien, in Belgien und anderen Ländern. In Frankreich traf er sich „mit allen Premierministern der Zwischenkriegszeit“, von denen er seinen Glaubensgenossen Léon Blum besonders sympathisch fand. Den französischen Außenminister Aristide Briand beurteilte er als „wohlgesinnt, auch wenn er nicht so ganz verstand, was vor sich ging“. (In diesem Stil äußerte sich Weizmann oft über jene westlichen Politiker, die taten, was er von ihnen verlangte.) Er wurde dreimal von Mussolini empfangen. Er sprach vor erlauchten Zuhörerschaften über das von Hitler verübte Unrecht und gab ihnen dann zu verstehen, dass es die Aufgabe der zivilisierten Welt sei, die Araber aus Palästina zu vertreiben. (Dass er es nicht so brutal formulierte, versteht sich von selbst.)
Nichtsdestoweniger standen die Zionisten in Palästina Ende der dreißiger Jahre mit dem Rücken zur Wand. Ohne den Zweiten Weltkrieg wäre der Zionismus zu einer bedeutungslosen Randerscheinung, einer bizarren Fußnote der Geschichte geworden.
1936 nahm der arabische Widerstand an Heftigkeit zu. Seit vierzehn Jahren hatten die aufeinanderfolgenden britischen Regierungen den Arabern auf zionistisches Geheiß die Abhaltung von Wahlen verwehrt. Mit der Zeit verlor Weizmanns Argument, dass diese Verweigerung ihrem Wesen nach zutiefst demokratisch sei, seine Schlagkraft, und die britische Regierung stand vor einem immer bedrohlicheren Dilemma: Stanley Baldwin, der Macdonald als Premierminister gefolgt war, nahm zu der bewährten Verzögerungstaktik Zuflucht: Er entsandte wieder einmal eine Untersuchungskommission (die fünfte?) nach Palästina, die Peel-Kommission, und nun entartete die Sache endgültig zur Farce.
Macdonald hatte sich von Weizmann und dessen Spießgesellen einschüchtern lassen und seine „Palästina-Politik“, die er immerhin nach langen Konsultationen mit seinen Beratern entworfen hatte, gänzlich aufgegeben. Nun, wo Macdonalds Nachfolger Baldwin eine Kommission nach Palästina geschickt hatte, der die Aufgabe oblag, eine alternative Politik zu formulieren, wurde sie von Weizmann empfangen! Wieselflink hüpfte Weizmann von London nach Jerusalem und zurück, wies die britische Regierung an, was sie zu tun hatte, belehrte die Angehörigen der englischen Kommission in Palästina darüber, was sie nach London zu melden hatten, und instruierte die britische Regierung schließlich, wie sie nach dem Eintreffen der Berichte aus Palästina mit diesen umzugehen hatte! (Ungeachtet dieser fieberhaften Aktivitäten fand er noch Zeit für einen kleinen Abstecher nach New York und ermahnte seine dortigen Gesinnungsgenossen, mehr Dampf zu machen.)
Irgendjemand schlug der Peel-Kommission vor, den gordischen Knoten doch einfach zu durchhauen und Palästina zu teilen, worauf die Kommission diesen Vorschlag prompt an Weizmann weiterleitete. All die Jahre hindurch hatten die Zionisten die Fiktion aufrechterhalten, sie verlangten gar keinen jüdischen Staat, sondern lediglich eine „nationale Heimstatt“. Weizmann hakte sofort ein, denn wenn die britische Regierung einer „Teilung“ Palästinas zustimmte, erteilte sie der Gründung eines Judenstaates de facto ihren Segen.
Weizmanns asiatisches Verhandlungsgeschick nötigt einem widerwillige Bewunderung ab. Unter Berufung auf das Alte Testament stimmte er dem Teilungsplan zu, ohne sich auf irgendwelche konkreten Grenzen festzulegen. Seinen eigenen Worten zufolge war er durchaus bereit, hinsichtlich des Gebiets, das die Zionisten für sich beanspruchten, gewisse Konzessionen zu machen, denn schließlich hatte Jahwe keine genauen Grenzen fixiert. Durch sein Eingehen auf den Teilungsvorschlag stellte Weizmann sicher, dass die Zionisten von Anfang an einen Teil Palästinas zugesprochen erhielten; angesichts der Tatsache, dass die Grenzen des künftigen Judenstaates nicht präzise festgelegt waren, lief dies in der Praxis jedoch darauf hinaus, dass die „Teilung“ in Wirklichkeit gar keine solche zu sein brauchte. Im Lichte der späteren Geschehnisse ist die Formulierung, mit der sich Weizmann für die Teilung aussprach, durchaus interessant: „Die Araber befürchten, dass wir ganz Palästina besetzen werden. Wir können noch so oft wiederholen, dass wir ihre Rechte respektieren werden: Sie sind von Furcht besessen und nicht bereit, Vernunft anzunehmen. Ein jüdischer Staat mit international anerkannten Grenzen wäre etwas Endgültiges: die Überschreitung dieser Grenzen wäre ein Kriegsakt, den die Juden nicht begehen würden, nicht nur wegen seiner moralischen Fragwürdigkeit, sondern weil sie hierdurch die ganze Welt gegen sich aufbringen würden.“
Die Peel-Kommission empfahl die Teilung Palästinas und hielt fest, dass das Konzept des „Mandats“ nicht funktionierte. Hätte die britische Regierung die Empfehlungen der Kommission beherzigt und ihre Truppen und Verwaltungsbeamten sofort aus Palästina zurückgezogen, so wäre der Menschheit viel Kummer erspart geblieben, doch zwei Jahre später brach der Zweite Weltkrieg aus, und das unlösbare Problem wurde erst recht auf die lange Bank geschoben.
Während die Kriegsgefahr in Europa wuchs, hausierte Weizmann bei den westlichen Politikern unermüdlich mit dem Argument, eine jüdische Heimstatt werde „in diesem Teil der Welt als einziger verlässlicher Verbündeter der Demokratien eine sehr bedeutende Rolle spielen“. Auf diese Weise wollte er Politiker und Presse des Westens dazu bewegen, der Öffentlichkeit die zionistische Forderung nach Waffen zur gewaltsamen Inbesitznahme Palästinas schmackhaft zu machen. 1938 schlug er dem britischen Kolonialsekretär Ormsby-Gore vor, den Zionisten die Bildung einer rund 40.000 Mann starken Armee zu erlauben. Dies bedeutete im Klartext, dass der „unnötige Krieg“ unvermeidlich war (eine Annahme, in der sich die unsichtbaren Drahtzieher anscheinend durchwegs einig waren) und dass Weizmann alles in seinen Kräften stehende tat, um diesen Krieg herbeizuführen, wobei der jüdische Wunsch nach einem eigenen Staat sein einziges Argument war. Nach dem Mord an dem deutschen Diplomaten von Rath in Paris und den anschließenden antijüdischen Ausschreitungen in Deutschland (November 1938) äußerte sich Weizmann gegenüber dem britischen Außenminister Anthony Eden wie folgt:
„Wenn man es einer Regierung erlaubt, eine ganze Gemeinschaft, die nichts Böses getan hat, zu vernichten… bedeutet dies den Beginn der Anarchie und die Zerstörung der Grundlagen der Zivilisation. Jene Mächte, die dabei untätig zusehen und keinerlei Maßnahmen zur Verhütung des Verbrechens ergreifen, wird eines Tages eine strenge Strafe ereilen.“
Bei diesen schicksalsschweren privaten Unterredungen in den Vorzimmern der Macht wurde kein Wort an die nichtjüdischen Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung verschwendet; als Kriegsgrund wurde einzig und allein die Drangsalierung einer bestimmten „Gemeinschaft“ ins Feld geführt. Wie die spätere Entwicklung gezeigt hat, beabsichtigten die Zionisten selbst, „eine ganze Gemeinschaft, die nichts Böses getan hat, zu zerstören“ – die palästinensischen Araber nämlich, die nichts von Hitler wussten -, und die Waffen, nach denen sie verlangten, waren für diesen und keinen anderen Zweck gedacht. Es entbehrt nicht der Ironie, dass Weizmann seine Forderungen in Formulierungen kleidete, die dem christlichen Glauben entlehnt waren, denn diesem zufolge ist die „Vernichtung einer ganzen Gemeinschaft, die nichts Böses getan hat“ in der Tat ein Verbrechen, das gesühnt werden muss. Gemäß dem levitischen Gesetz, mit dem Weizmann seine Forderung nach Palästina begründete, ist ein solches Vorgehen hingegen nicht nur erlaubt, sondern sogar „oberstes Gesetz“ und wird nicht bestraft, sondern belohnt.
In den letzten zwölf Monaten vor Kriegsausbruch taten die geheimen Strippenzieher alles, um die Politiker vollständig unter ihre Kontrolle zu bringen und den Gang der Dinge zu steuern. Der amerikanische Präsident Roosevelt war voll auf das zionistische Programm eingeschworen, doch erlaubten ihm die Realitäten in seinem Land vorderhand noch nicht, auf Kriegskurs zu gehen; dies sollte erst später der Fall sein. In England wurde Baldwin als Premierminister von Neville Chamberlain abgelöst, der dem „unwiderstehlichen Druck“ der Hintergrundmächte unerwarteten Widerstand leistete.
Chamberlains Name ist mit dem Münchner Abkommen verbunden, welches die Abtretung des Sudetenlandes an Deutschland vorsah und als Höhepunkt der britisch-französischen Beschwichtigungspolitik gegenüber dem Dritten Reich gilt. Einige Wochen lang glaubten die Massen, dieses Abkommen habe den Frieden gerettet. Ich hielt mich während jener Zeit in Budapest und Prag auf und begriff erstmals, was Thomas Jefferson mit folgendem Ausspruch gemeint hat: „Ich betrachte die große Masse meiner Landsleute wirklich mit tiefem Mitleid: Sie lesen die Zeitungen und leben und sterben im Glauben, sie hätten etwas von dem erfahren, was zu ihren Lebzeiten auf der Welt geschah.“
Vermutlich war Chamberlain der Ansicht, in Anbetracht der militärischen Schwäche seines Landes, das durch die Schuld seines Vorgängers Baldwin in keiner Hinsicht auf einen Krieg vorbereitet war, bleibe ihm keine andere Wahl. Wenn er wirklich so dachte, erlag er meines Erachtens einer Illusion. Selbst noch zu jenem späten Zeitpunkt hätte sich Standfestigkeit ausgezahlt, denn die deutschen Generäle waren bereit, Hitler zu stürzen. Nichtsdestoweniger war Chamberlain wohl ehrlich überzeugt, nicht anders handeln zu können. Der unverzeihliche Fehler, den er beging, bestand darin, das Münchner Abkommen als moralisch gerechtfertigt darzustellen und von der Tschechoslowakei als einem „kleinen, fernen Land, mit dem wir nichts zu tun haben“ zu sprechen. *
Immerhin wird man es Chamberlain zugute halten müssen, dass er seine Haltung wenigstens konsequent verfocht. Er wollte um jeden Preis vermeiden, dass England auch in einem anderen „kleinen, fernen Land“ in einen endlosen Konflikt verstrickt blieb, den ihm Arthur Balfour eingebrockt hatte. Hiermit handelte er sich die bittere Feindschaft der Hintergrundmächte ein. Meiner Meinung nach wurde er 1940 dann aus denselben Gründen gestürzt wie Herbert Asquith Anno 1916.
1938, als der Teilungsplan entworfen wurde, war in Palästina das bisher blutigste Jahr gewesen: 1500 Araber waren getötet worden. Die Peel-Kommission hatte sich zwar grundsätzlich für die Teilung des Landes ausgesprochen, jedoch keine greifbaren Vorschläge für deren Verwirklichung unterbreitet. Infolgedessen entsandte London die x-te Kommission, die Woodhead-Kommission, der die Aufgabe oblag, das Kind zu zerschneiden, ohne es umzubringen. Im Oktober 1938 meldeten die Woodhead-Leute, sie seien nicht in der Lage, einen konkreten Plan zu entwerfen. Bald darauf boten der Mord an Rath sowie die „Kristallnacht“ den Zionisten willkommenen Anlass, den Terror gegen die Palästinenser noch zu verstärken.
Nun tat Chamberlain etwas zumindest für die damaligen Verhältnisse Ungewöhnliches: Er berief in London eine Palästina-Konferenz ein, an der die Araber erstmals seit der Friedenskonferenz von 1919 teilnehmen durften. Als Ergebnis der Verhandlungen wurde im März 1939 das sogenannte „Weißbuch“ erstellt, in dem sich die britische Regierung verpflichtete, „innerhalb von zehn Jahren einen palästinensischen Staat zu gründen“ und „das Mandat zu beenden“.
In diesem Staat sollten die alteingesessenen Araber und die zionistischen Immigranten gemeinsam regieren, um sicherzustellen, dass die lebenswichtigen Interessen beider Gemeinschaften gewahrt blieben. Die jüdische Einwanderung wurde auf 75.000 pro Jahr begrenzt, und nicht wieder rückgängig zu machende Landkäufe wurden strikten Beschränkungen unterworfen.
Hätte man diesen Plan konsequent verwirklicht, so hätte er Palästina tatsächlich den Frieden beschert, jedoch nicht zur Gründung eines separaten jüdischen Staates geführt. Ausgerechnet zu jenem Zeitpunkt begann sich Winston Churchill in der britischen Politik jäh in den Vordergrund zu drängen, nachdem er seit zehn Jahren kein öffentliches Amt mehr bekleidet hatte. Der Leser der Zukunft wird vielleicht bass erstaunt sein, zu erfahren, was dem Beobachter der damaligen Geschehnisse sehr wohl bekannt war: Churchill war in jenen Jahren sehr unpopulär, und zwar nicht aufgrund bestimmter Handlungen oder Eigenschaften, sondern weil die Presse, die wichtigste Waffe in den Händen der Hintergrundmächte, ihn konstant schlechtmachte. Dies wurde besonders während der Abdankungskrise von 1937 deutlich, als Churchills Bitte, sich mit dem Entscheid mehr Zeit zu nehmen, mit völlig ungerechtfertigter bissiger Kritik quittiert und Churchill im Unterhaus regelrecht niedergeschrieen wurde. Seinen Biographen zufolge litt er damals unter Depressionen und meinte, mit seiner politischen Karriere sei es aus und vorbei. Was er tatsächlich empfand, geht wohl aus einem (später veröffentlichten) Privatbrief an Bernard Baruch von Anfang 1939 hervor: „Es gibt schon sehr bald Krieg. Wir werden darin verstrickt werden und ihr auch. Sie werden dort den Laden schmeißen, aber ich werde hier im Abseits stehen.“
Doch über Nacht verbesserten sich Churchills Chancen auf ein politisches Comeback sprunghaft. Wie schon bei Lloyd George im Jahre 1916 scheint seine positive Einstellung gegenüber dem Zionismus dabei eine entscheidende Rolle gespielt zu haben. Die vorhandenen Unterlagen erwecken den Eindruck, dass Churchill „ein Rätsel innerhalb eines Mysteriums, das in ein Geheimnis gehüllt ist“ war, um eine von ihm selbst stammende, auf die UdSSR gemünzte Formulierung aus dem Jahre 1939 aufzugreifen. Wie an früherer Stelle erwähnt, hatte er schon 1906 zu den ersten Politikern gehört, die den eben flügge gewordenen Zionismus unterstützten, und zwar so nachdrücklich, dass ein zionistischer Sprecher bei einer Wahlveranstaltung sagte, jeder Jude, der gegen Churchill stimme, sei ein Verräter. Als Kriegsminister während des Ersten Weltkriegs kümmerte er sich freilich kaum je um zionistische Belange; Chaim Weizmann erwähnt ihn in jenem Zeitraum nur ein einziges Mal und bezeichnet ihn durchaus nicht als „Freund“. Als Kolonialminister stieß er die Zionisten 1922 mit seinem Weissbuch, das Balfour als „ernsthafte Verwässerung der Balfour-Deklaration“ rügte, geradezu vor den Kopf. In diesem Dokument regte Churchill nämlich die Gründung eines leglislativen Rats in Palästina an, dessen Mitglieder mehrheitlich gewählt werden sollten. Dies hätte nicht nur bedeutet, dass die Wahlen, gegen die sich Weizmann mit Zähnen und Klauen sträubte, tatsächlich stattgefunden hätten, sondern auch, dass die palästinensischen Araber ihr Heimatland selbst hätten regieren können!
Während der zehn Jahre von 1929 bis 1939, die Churchill in der politischen Wildnis verbrachte, begegneten ihm die Zionisten mit Argwohn. In Weizmanns Buch taucht sein Name während dieser Zeitspanne kein einziges Mal auf; erst am Vorabend des Kriegsausbruchs befindet ihn Weizmann wieder der Erwähnung für würdig. Damals trat Churchill nämlich urplötzlich als feuriger Verfechter zionistischer Anliegen ins Rampenlicht. Dies ist schon darum höchst bemerkenswert, weil er sich noch am 20. Oktober 1938 genau so geäußert hatte wie 1922, als er sein Weißbuch schrieb: „Wir sollten…. den Arabern eine feierliche Versicherung abgeben… dass die jährliche jüdische Einwanderungsquote wenigstens für ein Jahrzehnt eine bestimmte Zahl nicht überschreitet.“
Bald darauf erschien er in Weizmanns Darstellung jedoch als Mann, der die Einwanderung von Millionen Juden nach Palästina im privaten Gespräch implizit befürwortete.
Weizmann schreibt, 1939 habe er sich mit Winston Churchill (den er in seiner Darstellung der vorhergehenden 17 Jahre konsequent ignoriert hatte) zu einer Unterredung getroffen: „Er sagte mir, er werde sich an der Parlamentsdebatte beteiligen und natürlich gegen das vorgeschlagene Weißbuch Stellung beziehen“. Warum Churchill seine Ablehnung des Weißbuchs als „natürlich“ bezeichnete, verrät Weizmann seinen Lesern nicht. Immerhin stand die in diesem Dokument erhobene Forderung nach Gerechtigkeit für die Araber durchaus in Übereinklang mit Churchills eigenem Weißbuch aus dem Jahre 1922 und mit seinen noch Ende 1938 abgegebenen Erklärungen.
Am Tag der Parlamentsdebatte lud Churchill Weizmann zum Mittagessen ein. Wie letzterer berichtet, las ihm Churchill das Manuskript seiner Ansprache vor und fragte ihn anschließend, ob er irgendwelche Änderungswünsche habe. Der Leser mag sich daran erinnern, dass sich die Herausgeber der Times sowie des Manchester Guardian mit führenden Zionisten berieten, ehe sie ihre Leitartikel zum Thema Zionismus schrieben; nun schlug Winston Churchill vor einer Debatte zu einem hochwichtigen Thema denselben Kurs ein. Churchill war als erstklassiger Redner bekannt und verdankte seine Popularität in Amerika der für amerikanische Verhältnisse außergewöhnlichen Tatsache, dass er seine Reden selbst schrieb (wenigstens behauptete man dies). Angesichts der von Weizmann geschilderten Umstände, unter denen der definitive Text seiner Ansprache vor dem Unterhaus zustande kam, ist die Frage, welcher Satz jeweils von wem stammte allerdings von nebensächlicher Bedeutung.
Churchills Störfeuer gegen das Weißbuch brachte keinen Erfolg, denn die Debatte endete mit einem Sieg für Chamberlain; 268 Abgeordnete stimmten für das Weißbuch und nur 179 dagegen. Trotz dieses klaren Erfolges schienen viele Abgeordnete bereits begriffen zu haben, woher der Wind wehte, und die ungewöhnlich hohe Zahl von Stimmenthaltungen (110) weist darauf hin, dass gar mancher Abgeordnete vermeiden wollte, auf die schwarze Liste der Zionisten zu geraten. Für Chamberlain war dies ein Warnschuss vor den Bug und ein Hinweis auf die Techniken, mit denen innerhalb seiner eigenen Partei gegen ihn agitiert und auf seinen Sturz hingearbeitet wurde. Noch ein weiterer interessanter Tatbestand wurde bei der Debatte klar: Die sozialistische Opposition betrachtete den Zionismus mittlerweile als Eckpfeiler ihrer Politik, und eine positive Einstellung zum Zionismus galt als Prüfstein für sozialistische Gesinnung! Die aufstrebende Labour Party hatte die Nöte des kleinen Mannes, das Leiden der Unterdrückten und das traurige Los der Unterprivilegiertenlängst vergessen; sie mischte emsig bei internationalen Intrigen mit und legte Wert darauf, auf der Seite der Mächtigen zu stehen. So erhob ein Sozialistenführer namens Herbert Morrison heftige Vorwürfe gegen Malcolm Macdonald (dessen Kolonialministerium als treibende Kraft hinter dem Weißbuch galt) und geißelte die Häresie eines Mannes, „der einst Sozialist war“. Für Leute wie Morrison war Sozialismus mittlerweile identisch mit der Vertreibung der Araber aus Palästina, und die Gewerkschaftsbosse mit ihren aufdringlich zur Schau getragenen Golduhren scherte es herzlich wenig, wie arm und unterdrückt jenes ferne Volk war.
Schon bald nach der Erstellung des Weissbuchs brach der Zweite Weltkrieg aus und bereitete allen Diskussionen über die „Gründung eines unabhängigen Palästina“ und die „Beendigung des Mandats“ ein jähes Ende. Während des ganzen Krieges wurde nicht mehr über diese Fragen gesprochen, und als der Krieg zu Ende war, hatte sich die Lage grundlegend geändert. In Amerika hatte sich Roosevelt laut seines Sonderbotschafters Harry Hopkins „öffentlich und privat“ verpflichtet, den Zionismus zu unterstützen.
In England legte sich Chamberlain quer, doch sein Sturz sollte nicht mehr lange auf sich warten lassen. Der neue Stern am politischen Himmel hieß Winston Churchill. Das Volk wollte ihn als Premierminister, weil er der Mann war, der in Bezug auf Hitler und den Krieg „recht gehabt“ hatte. Von seinen Gesprächen mit Weizmann und den Konsequenzen, die diese heraufbeschwören konnten, ahnte man nichts.
* Reeds Argumentation wirkt hier sehr befremdlich. Immerhin waren die Bewohner des Sudetenlandes in ihrer überwältigenden Mehrheit Deutsche, die nie den Wunsch verspürt hatten, in einem von den Tschechen beherrschten Staat zu leben, sondern aufrichtig den Anschluss an Deutschland anstrebten. Das Münchner Abkommen trug also dem Selbstbestimmungsrecht der Völker Rechnung und war insofern sehr wohl „moralisch“. – Der Übersetzer. (Zurück)