Kapitel 28
Der fatale Irrtum des Arthur Balfour
Vorbemerkung des Übersetzers: Douglas Reed wirft in diesem Kapitel die Frage auf, was Arthur Balfour dazu bewogen haben mag, sich so eifrig für die zionistische Sache einzusetzen. Eine zumindest teilweise Antwort auf diese Frage lieferte die Jerusalem Post in ihrer Ausgabe vom 12. Januar 1999, in der sie darauf hinwies, dass die nach Balfour benannte Deklaration von 1917 in Wahrheit vom damaligen Unterstaatssekretär und späteren Indien-Minister Leo Amery formuliert worden ist. Amery war ein heimlicher Jude; seine Mutter war eine zum Protestantismus konvertierte ungarische Jüdin.
Im ersten Jahrzehnt des zwanzigsten Jahrhunderts mehrten sich die Anzeichen des kommenden Sturms. 1903 hatte die britische Regierung den Zionisten Uganda offeriert, und Max Nordau hatte öffentlich einen „Weltkrieg“ prophezeit, in dessen Windschatten England Palästina dem Zionismus überantworten werde. 1905 kündigten die Protokolle die zerstörerische Orgie des Kommunismus an. Ein Jahr darauf, Anno 1906, traf der britische Premierminister Arthur James Balfour Herrn Dr. Chaim Weizmann in einem Hotelzimmer und ließ sich von ihm dazu hinreißen, Palästina, das nicht ihm gehörte, „den Juden“ zu versprechen.
Zu diesem Zeitpunkt zeichneten sich die Konturen des künftigen Weltkriegs immer deutlicher ab. Mit seinem Versprechen trug Arthur Balfour maßgeblich dazu bei, die Weichen für den Verlauf des 20. Jahrhunderts zu stellen. Hätte ein anderer Mann seine Position bekleidet, so hätte er die bevorstehenden Katastrophen vielleicht verhütet; vielleicht hätte er gleich gehandelt wie Balfour, denn die Mechanismen zur Erzeugung von "unwiderstehlichem Druck auf die internationalen Angelegenheiten der Gegenwart“ (so Leon Pinsker im Jahre 1882) waren mittlerweile offenbar perfektioniert worden. Rabbi Elmer Berger meint, damals habe "jene Gruppe von Juden, die sich dem Zionismus verschrieben hatten... eine abenteuerliche Politik betrieben, die sie in viele Kanzleien und Parlamente führte, wobei sie die verschlungenen und tückischen Pfade der internationalen Politik in einem Teil der Welt erkundeten, wo politische Intrigen und geheime Abkommen gang und gäbe waren. Die Juden begannen das Spiel der 'praktischen Politik' zu spielen.“
Damals begann die Ära der manipulierbaren „Regierenden“ und fügsamen „diktatorischen Premierminister“, von denen jeder sein Scherflein zur Verwirklichung des großen Plans beitrug. Aus diesem Grund ist es ohne weiteres denkbar, dass irgendein anderer Politiker an Balfours Stelle ähnlich vorgegangen wäre wie dieser; dies ändert jedoch nichts daran, dass Balfours Name mit einer der kapitalsten Missetaten der Geschichte verbunden ist und bleibt.
Dass sich ein Mann seiner Herkunft, Ausbildung und Art so verhielt wie er, lässt sich nur sehr schwer erklären. Erforscht man seine Beweggründe, so findet man kein anderes Motiv als eine für „Liberale“ nicht ungewöhnliche Vernarrtheit in ein Unterfangen, das er keinesfalls so nüchtern und realistisch geprüft hatte, wie es seine Pflicht gewesen wäre. Dass ihn eiskalte realpolitische Erwägungen (d. h. das Buhlen um zionistisches Geld oder zionistische Stimmen) zu seinem Tun bewogen, lässt sich praktisch ausschließen. Er und seine Kollegen gehörten den ältesten Familien Englands an, deren Angehörige generationenlang im öffentlichen Dienst gestanden hatten. Die staatsmännische Kunst lag ihnen im Blut; sie besaßen instinktives Verständnis für Regierungsgeschäfte und Außenpolitik, vertraten die erfolgreichste herrschende Klasse der geschriebenen Geschichte und waren durchwegs sehr wohlhabend.
Wie kam es da, dass ihr Instinkt, ihre Tradition und ihre Weisheit sie in dieser einen Frage urplötzlich im Stich ließen - und dies zu einem Zeitpunkt, wo die Konservative Partei in ihrer alten Form Großbritannien zum letzten Mal regierte und ihre Familien von ehrwürdigen Häusern in Piccadilly und Mayfair sowie von ihren Landgütern aus immer noch über das Geschick der Nation wachten? Waren sie mit der Drohung kirre gemacht worden, man werde den "Mob" auf sie loslassen, wenn sie nicht taten, was von ihnen verlangt wurde? Sie begriffen, dass Geburt und Privilegien allein nicht mehr ausreichen würden, um ihnen auf Dauer Zugang zu den höchsten Ämtern zu garantieren. Die Welt war im vergangenen Jahrhundert anders geworden, und sie wussten, dass auch künftig einschneidende Veränderungen ins Haus standen.
Britischer Tradition getreu arbeiteten sie darauf hin, die Kontinuität der Entwicklung zu sichern, Gewalt zu vermeiden und Versöhnung anzustreben. Sie waren zu weise, um sich stur gegen den Wandel zu sperren; und versuchten ihn stattdessen zu lenken. Dies mag sie dazu verleitet haben, den Abgesandten des "Fortschritts", die energisch an ihre Pforte pochten, allzu rasch die Hand zu schütteln, ohne sich zuvor vergewissert zu haben, mit wem sie es eigentlich zu tun hatten.
Arthur Balfour (1848-1930), ihr Führer, war ein großgewachsener, zurückhaltender Akademiker und Junggeselle, leidenschaftslos und pessimistisch; er wirkte kalt und unnahbar, doch seine engsten Bekannten hielten ihn für einen gutherzigen Menschen. Dass er sich als Mann mittleren Alters unversehens für den Zionismus erwärmte, hing vielleicht damit zusammen, dass er ein Hagestolz war. Als Jüngling hatte er es nicht gewagt, seine Angebetete um ihre Hand zu bitten, so dass sie sich schließlich mit einem anderen verlobte; nachdem ihr Auserwählter noch vor der Heirat gestorben war, schickte sich Balfour an, das früher Versäumte nachzuholen und sie in den Ehehafen zu führen, doch dann schied sie selbst jäh vom Lichte. Hierauf beschloss Balfour, ehelos zu bleiben.
Frauen mögen ja nicht besonders dazu berufen sein, einen distinguierten Junggesellen mit gebrochenem Herzen objektiv zu beurteilen, doch viele der über Balfour gefällten Urteile stammen von Damen, von denen ich zwei der schönsten jener Zeit zitieren möchte. Consuelo Vanderbilt, Amerikanerin und spätere Herzogin von Malborough, schrieb über ihn: „ Die von ihm geäußerten Meinungen und die Grundsätze, zu denen er sich bekannte, schienen das Produkt reiner Logik zu sein... Er war mit einem so umfassenden Verständnis gesegnet, wie ich es bei keinem anderen Menschen gefunden habe. Lady Cynthia Asquith meinte: „Was die Behauptung betrifft, er sei unfähig gewesen, moralische Empörung zu empfinden, kann ich nur sagen, dass ich ihn oft weiß vor Zorn gesehen habe; jede persönliche Ungerechtigkeit brachte ihn in Rage.“
Gemessen an Balfours Handlungen könnte der letzte Halbsatz falscher kaum sein, und Consuelo Vanderbilts Behauptung, seine Meinungen und Grundsätze seien „das Produkt reiner Logik“ gewesen, trifft zumindest auf seinen Einsatz für die zionistische Sache nicht zu, denn an diesem war überhaupt nichts Logisches. Die Verwirklichung des zionistischen Plans hat nämlich keiner der betroffenen Parteien irgendwelchen Segen gebracht, weder Balfours eigenem Land noch den alteingestammten Bewohnern Palästinas noch der großen Masse der Juden, die (zumindest meiner Meinung nach) nicht den geringsten Wunsch verspüren, nach Palästina auszuwandern. Dass „Ungerechtigkeit“ Balfour „in Rage brachte“ (Lady Asquith sprach allerdings einschränkend von „persönlicher Ungerechtigkeit“), ist nicht minder unglaubhaft, denn immerhin hatte die Begründung des zionistischen Staates zur Folge, dass Millionen unschuldiger Menschen in die arabische Wüste vertrieben wurden und dort gewissermaßen die Rolle des levitischen „Sündenbocks“ spielen müssen.
Arthur Balfour war als Nachfolger des "lieben Onkel Robert" (d. h. Lord Cecil Salisbury) im Jahre 1902 zum Premierminister von Großbritannien gekürt worden. Ursprünglich wird er schwerlich mit dem Gedanken geliebäugelt haben, Uganda den Zionisten anzubieten, so dass diese Offerte das Ergebnis "unwiderstehlichen Drucks" gewesen sein muss. Zu welchem Zeitpunkt und unter welchen Umständen dieser ausgeübt wurde, wissen wir nicht; schließlich haben wir keine Möglichkeit zu erfahren, was im Labyrith der Verschwörung vor sich ging. Jedenfalls war die Mine bereits gelegt, als Balfour Premierminister wurde, auch wenn er sich, anders als wir Heutigen, der Existenz dieser Mine vermutlich bis zum Ende seiner Tage nicht bewusst war.
Im Gegensatz zu Balfour wusste Herzl, dass der Zionismus pures Dynamit war [10]. Nachdem er sich bei drei Potentaten – dem Zaren, dem Kaiser und dem Sultan, die ihn zwar höflich empfingen, aber nicht auf seine Forderungen eingingen – eine Abfuhr geholt hatte, erklärte er: „England, das große England, das freie England, England, das die Meere beherrscht, wird unsere Ziele verstehen.“ (Man begreift unschwer, zu welchem Zweck England für Dr. Herzl groß und frei sowie zur Herrscherin über die Meere geworden war…) Dass Großbritannien den Zionisten Uganda statt Palästina anbot, bewies nach Ansicht des talmudistischen Rabbinats in Russland jedoch, dass es die zionistischen Ziele keinesfalls verinnerlicht hatte. So wurde Chaim Weizmann als Herzls Nachfolger aufgebaut und nach England geschickt. Von diesem Zeitpunkt an ist Weizmann unser wichtigster Zeuge, der uns zahlreiche Einblicke in die verborgenen Geschehnisse jener Epoche vermittelt.
Hätte ein junger Engländer versucht, sich Zutritt zu den abgeschirmten und streng bewachten Privaträumen eines Kabinettsministers zu verschaffen, um ihm irgendeine bescheidene Petition zu überreichen, so wäre ihm dies allenfalls unter größten Schwierigkeiten gelungen, doch der jugendliche Dr. Weizmann aus Russland, der nichts Geringeres als Palästina wollte, wurde schnurstracks in das Büro des "für afrikanische Angelegenheiten verantwortlichen“ Lord Percy komplimentiert. Dieser entstammte ebenfalls einem altehrwürdigen Adelsgeschlecht, aus dem viele hohe Staatsbeamte hervorgegangen waren. Laut Dr. Weizmann „bekundete er bodenloses Erstaunen darüber, dass die Juden den Uganda-Plan auch nur in Erwägung gezogen hatten, den er einerseits als undurchführbar und andererseits als Verleugnung der jüdischen Religion betrachtete. Da er selbst tief religiös war, war er verstört darüber, dass Juden auch nur mit dem Gedanken spielen konnten, ein anderes Land als Palästina als Stätte ihrer nationalen Wiedergeburt ins Auge zu fassen, und er war sehr erfreut, von mir zu hören, dass so viele Juden das Uganda-Projekt so nachdrücklich abgelehnt hatten. 'Wäre ich ein Jude, so würde ich keinen roten Heller für diesen Plan geben', fügte er hinzu.“
Wahrscheinlich hat Weizmann Lord Percy nicht darüber aufgeklärt, dass sich die Juden in Palästina einmütig nach Uganda sehnten. Wenn Weizmanns Darstellung stimmt, dürfte man Lord Percy nahegelegt haben, Dr. Herzl loszuwerden und dessen Nachfolger Unterstützung bei der Verwirklichung seiner Palästina-Pläne zuzusichern. Weizmann verließ London, um Herzls Abhalfterung vorzubereiten. Er ging nicht mit leeren Händen.
Möglicherweise haben britische Minister in den fünfzig Jahren, die seither verstrichen sind, gelernt, dass Schreibpapier mit dem Stempel einer staatlichen Behörde an einem Ort aufbewahrt werden soll, wo nur Befugte Zugriff darauf haben. Ehe Weizmann Lord Percys Büro verließ, nahm er ein paar Bögen Papier mit dem Stempel des britischen Außenministeriums an sich, schrieb darauf einen Bericht über seine Unterredung und schickte sie nach Russland (wo Papier mit dem Stempel der Regierung unter den Romanows ebenso wenig überall herumlag wie später unter den Kommunisten). Bei seinen Empfängern muss dieses hochoffiziell anmutende Dokument so ehrfürchtige Gefühle erweckt haben wie eine heilige Ikone bei russischen Bauern. Seine Aussage schien eindeutig: Die britische Regierung brauchte Herzl nicht mehr und war bereit, den russischen Zionisten Palästina zu überantworten. Lord Percy hatte Feuer an die Lunte gelegt.
Fortan folgten die Geschehnisse so unerbittlich aufeinander wie in einer griechischen Tragödie: Der Triumph der Zionisten in Russland über Theodor Herzl, Herzls Zusammenbruch und frühzeitiger Tod, die Ablehnung der Uganda-Offerte. Als nächstes siedelte Chaim Weizmann nach England über, „dem einzigen Land, von dem zu erwarten war, dass es für eine Bewegung wie die unsere echte Sympathie empfinden würde“ und wo er „ungehindert leben und arbeiten konnte, zumindest theoretisch“ (wenn es je eine handfeste Untertreibung gab, dann diese).
Als Wohnort wählte Chaim Weizmann Manchester. Er behauptete zwar, dies sei auf einen blossen Zufall zurückzuführen gewesen, doch war dies blosse Augenwischerei: Arthur Balfours Wahlkreis befand sich ebenso in Manchester wie das zionistische Hauptquartier Englands; ausserdem war der konservative Spitzenpolitiker in Manchester Zionist. (Noch heute ist die Konservative Partei Großbritanniens stark zionistisch unterwandert.)
Das Drama nahm weiter seinen Lauf. Balfours Amtszeit als Premierminister endete für seine Partei mit einem Fiasko: Bei den Parlamentswahlen von 1906 verlor sie in Manchester acht von neun Sitzen. Balfour selbst bekleidete eine Zeitlang kein öffentliches Amt mehr, doch dafür rückte eine andere Persönlichkeit ins Rampenlicht. Zu den siegreichen liberalen Kandidaten gehörte ein junger, aufstrebender Politiker mit sicherem politischem Riecher; sein Name war Winston Churchill. Auch er kandidierte bei den Parlamentswahlen in Manchester und biederte sich beim dortigen zionistischen Hauptquartier an, zuerst mit Attacken auf die Ausländerpolitik der Balfour-Regierung, die der Einwanderung aus Staaten wie Russland enge Grenzen setzte, und dann durch seine Unterstützung des Zionismus. Wie Churchills Biograph R. C. Taylor in seinem 1952 erschienenen Buch Winston Churchill berichtet, „stellten sich die Juden von Manchester prompt geschlossen hinter ihn, als sei er eine Neuauflage von Moses; einer ihrer Führer meldete sich bei einer rein jüdischen Versammlung zu Wort und erklärte, jeder Jude, der gegen Churchill stimme, sei ein Verräter an der gemeinsamen Sache“. Nach seiner Wahl ins Parlament wurde Churchill Unterstaatssekretär für die Kolonien. Seine öffentliche Unterstützung der Zionisten war damals nicht mehr als eine - wenn auch bedeutsame - Episode; drei Jahrzehnte später, als Balfour bereits im Grabe lag, sollte sie ebenso fatale Konsequenzen haben wie Balfours Irrtum.
Auch privat empfand Balfour starke Sympathie für den Zionismus. Den erhaltenen Unterlagen nach zu schließen, hat er nie auch nur einen einzigen Gedanken an die alteingesessenen Bewohner Palästinas verschwendet, für deren Vertreibung aus ihrer Heimat er indirekt die Verantwortung trug. Eine Fügung des Schicksals wollte es, dass das umstrittenste Thema bei den Wahlen, die seinen Sturz als Premierminister herbeiführten, die angeblich grausame Behandlung einer bestimmten Menschengruppe in einem fernen Land war (hiermit wurden nach dem von Herzl und den Protokollen vorgegebenen Rezept die Leidenschaften des "Mob" geschürt). Die Wähler wussten nichts vom Zionismus, und als sie später von ihm erfuhren, interessierten sie sich nicht für die durch ihn bedrohten Araber, weil keine "willfährige“ Presse sie über deren Los aufklärte, doch im Jahre 1906 erregte das Problem der "chinesischen Sklaverei" die Gemüter aufs heftigste. Damals wurden chinesische Kulis für drei Jahre zur Arbeit in den südafrikanischen Goldbergwerken verpflichtet. Jene Chinesen, die einen Kontrakt erhielten, schätzten sich glücklich, doch für die Agitatoren in Manchester war das Ganze "Sklaverei", und dass sie dieses Thema weidlich ausschlachteten, trug entscheidend zum Wahlsieg der Liberalen Partei bei. Nach ihrem Triumph vergaßen die Liberalen die "chinesische Sklaverei“ alsbald, und als sie die Konservativen als Regierungspartei ablösten, legten sie noch größere Begeisterung für den Zionismus an den Tag als diese.
Während sich die Agitatoren vor seinem Fenster über die „chinesische Sklaverei“ die Kehlen heiser schrien, bereiteten Arthur Balfour und sein Gast, der zionistische Emissär aus Russland, für die Araber Palästinas etwas noch Schlimmeres als Sklaverei vor. Schon vor dem Beginn der Unterredungen zog der Besucher Balfour restlos in seinen Bann; die Schilderung seiner Nichte und vieljährigen Vertrauten Mrs. Dugdale legt hiervon beredtes Zeugnis ab: „Seine Interesse an diesem Thema wurde… durch die Weigerung der zionistischen Juden verstärkt, die Uganda-Offerte zu akzeptieren…. Ihr Widerstand erweckte in ihm eine Neugier, die er einfach nicht befriedigen konnte… Er hatte den Vorsitzenden seiner Partei in Manchester gebeten, die Gründe für die zionistische Haltung in Erfahrung zu bringen….Balfours Interesse an den Juden und ihrer Geschichte… wurzelte im Privatunterricht seitens seiner Mutter, die den Schwerpunkt auf das Alte Testament gelegt hatte, und seiner schottischen Erziehung. Während er erwachsen wurde, besaßen seine intellektuelle Bewunderung und Sympathie für gewisse Aspekte der Juden in der modernen Welt für ihn einen ungeheueren Stellenwert. Ich erinnere mich, wie ich in meiner Kindheit von ihm die Vorstellung übernahm, die christliche Religion und Zivilisation verdanke dem Judentum enorm viel und habe ihm dies übel vergolten.“
So also dachte Arthur Balfour, als er Dr. Chaim Weizmann 1906 im dunklen und nebligen Manchester in einem Zimmer des alten Queen Hotel empfing. Gab er der Forderung, die ihm sein Gast vorlegte, statt, so bedeutete dies, dass die Türkei in dem von Max Nordau prophezeiten „künftigen Weltkrieg“ zu den Feinden Englands zählen würde, und wenn die Türkei zu den Verlierern gehörte, stand den Briten ein endloser Konflikt mit der arabischen Welt bevor.
Doch falls das, was seine Nichte über Balfour schreibt, den Tatsachen entspricht, bedeuteten die nationalen Interessen seines Landes, moralische Prinzipien und die hohe Kunst der Staatsführung ihm in diesem Augenblick nichts mehr.
Sein "verstärktes Interesse" und seine "unbefriedigte Neugier" ließen ihn nicht mehr los, und er benahm sich wie ein bis über die Ohren verliebtes junges Mädchen. Gewiss, er war nicht zum Premierminister gewählt worden, um darüber zu entscheiden, was die christliche Religion und Zivilisation dem Judentum verdankte oder, falls er der Ansicht war, die Christen stünden tatsächlich bei den Juden in der Schuld, zu beschließen, dass diese auf Kosten eines Dritten einem selbsternannten Schuldeneintreiber zu entrichten sei. Falls es tatsächlich handfeste Argumente für das Vorhandensein einer solchen Schuld gab und Großbritannien an dieser Anteil hatte, war es Balfours Pflicht, sein Land davon zu überzeugen. Stattdessen entschied er selbstherrlich, eine solche Schuld liege vor, und er sei dazu berufen, sie einem Besucher aus Russland auszuzahlen, obwohl die große Mehrheit der englischen Juden ihre Existenz bestritt. Man wird lange suchen müssen, um in der Geschichte auf eine bizarrere Episode zu stoßen.
Vierzig Jahre später erinnerte sich Chaim Weizmann, dass Balfour zur Zeit ihrer ersten Begegnung „nur ganz naive und rudimentäre Vorstellungen von der Bewegung“ besaß und nicht einmal Herzls Namen richtig auszusprechen vermochte; er nannte ihn „Dr. Herz“. Nichtsdestoweniger war er Feuer und Flamme für eine Sache, von der er so gut wie nichts verstand. Er erhob zwar formale Einwände, doch anscheinend nur um des Vergnügens willen, sie entkräftet zu sehen, so wie sich ein Mädchen zum Schein gegen die Verführungskünste eines Freiers sträubt, nach dessen Umarmung es sich heimlich sehnt. Weizmann berichtet, Balfour sei sehr beeindruckt gewesen, als er ihm folgendes Argument unterbreitet habe: „Mr. Balfour, nehmen wir einmal an, ich würde Ihnen statt London Paris anbieten, würden sie das Angebot annehmen?“ „Aber Dr. Weizmann, wir haben London doch“, erwiderte sein Gastgeber. „Und wir hatten Jerusalem, als London noch ein Sumpf war“, konterte Weizmann.
Für Balfour war dies eine hinreichende Begründung für die Umsiedlung der aschkenasischen Juden aus Russland nach Palästina. Da die einzigen Juden, in deren Namen er mit mehr oder weniger großem Recht sprechen konnte, die britischen, alles getan hatten, um ihn die Unterstützung des Zionismus auszureden, brachte er einen letzten schwachen Einwand vor: „Es ist wirklich merkwürdig, Dr. Weizmann, aber die Juden, die ich getroffen habe, sind ganz anders.“ „Dann haben Sie die falschen Juden getroffen, Mr. Balfour“, versetzte Weizmann gelassen.
Fortan stellte Balfour den Anspruch der Zionisten aus Russland, die richtigen Juden zu sein, nie mehr in Frage. „Diese Unterredung mit Weizmann belehrte mich darüber, dass die jüdische Form des Patriotismus einzigartig war. Weizmanns absolute Weigerung, sie [die Uganda-Offerte] auch nur in Erwägung zu ziehen, beeindruckte mich“, meinte er später. Mrs. Dugdale kommentiert diese Worte wie folgt: „Je mehr Balfour über den Zionismus nachdachte, desto mehr wuchsen sein Respekt vor ihm und sein Glaube an seine Bedeutung. Seine Überzeugungen waren bereits vor dem Sieg über die Türkei im Weltkrieg gereift und gestalteten die ganze Zukunft des Zionismus um." Sie gestalteten auch gleich die ganze Zukunft des Westens und zweier Generationen seiner Söhne um. Max Nordaus drei Jahre zuvor getätigte Prophezeiung eines „künftigen Weltkriegs“ kam ihrer Verwirklichung Anno 1906 bei diesem Treffen in einem Hotel in Manchester einen entscheidenden Schritt näher.
Mit dem Herannahen des Krieges nahm die Zahl der führenden Persönlichkeiten, die sich dem Zionismus mit Haut und Haaren verschrieben, rapide zu. Diese Männer waren faktisch Verschwörer, denn in der Öffentlichkeit ließen sie nie auch nur ein Sterbenswörtchen über ihre Pläne bezüglich Palästina verlauten. Keiner, der nicht dem inneren Kreis der Intrige angehörte, wusste, was diese Leute im Schilde führten und was schon bald vor dem Hintergrund eines mörderischen Völkerringens, als weder Parlament noch Bevölkerung die Handlungen der Politiker kontrollieren konnten, Wirklichkeit werden sollte. Die strenge Geheimhaltung, die den gesamten Prozess umgab, kennzeichnet diesen als Teil einer Verschwörung, die in Russland begonnen hatte und im Jahre 1917 ihre Früchte trug.
Die nächste Begegnung zwischen Weizmann und Balfour fand am 14. Dezember 1914 statt [11], also wenige Monate nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Die britische Armee in Frankreich hatte fürchterliche Verluste erlitten, und Frankreich selbst schien vor einer Katastrophe zu stehen; nur die Royal Navy schützte England vor dem Schlimmsten. Es standen noch fast vier Kriegsjahre bevor, die Großbritannien und Frankreich insgesamt rund drei Millionen Menschenleben kosten sollten, und die britische Jugend bereitete sich auf ihre Entsendung auf die Schlachtfelder vor. Die großen Ziele waren angeblich die Vernichtung des "preußischen Militarismus", die Befreiung "kleiner Nationen" sowie der Triumph von „Freiheit und Demokratie“.
Arthur Balfour sollte schon bald wieder eine Spitzenposition einnehmen: 1916 wurde er zum Außenminister ernannt. Bei seiner Unterredung mit Dr. Weizmanns schien er in Gedanken fernab von der großen Schlacht in Frankreich zu weilen. Er leitete das Gespräch wie folgt ein: „Ich dachte an unsere Diskussion [im Jahre 1906] und glaube, wenn die Kanonen verstummen, werden Sie Ihr Jerusalem vielleicht bekommen.“
Wer damals gelebt hat, dürfte sich an die damals herrschende Atmosphäre erinnern; führt er sich Balfours eben zitierte Worte zu Gemüte, begreift er, wie radikal dessen wahre Ziele von den öffentlich proklamierten abwichen. In der Gestalt Arthur Balfours kehrte Henry Wentworth Monk wieder, doch diesmal besaß er die Macht, das Geschick ganzer Nationen zu gestalten. Ganz offensichtlich hatte der "unwiderstehliche Druck" hinter den Kulissen mit den Jahren gehörig zugenommen und 1914 einen vorläufigen Höhepunkt erreicht.
Auch das amerikanische Volk war damals längst im Netz der Intrigen gefangen, wenn auch ohne dies zu ahnen. Die Amerikaner fürchteten sich vor einer Verwicklung in fremde Händel; sie wollten sich aus dem Krieg heraushalten und besaßen einen Präsidenten, der ihnen eben dies versprochen hatte. Dabei war ihr Kriegseintritt längst beschlossene Sache, denn der „unwiderstehliche Druck“ wurde in Washington genau so zielstrebig ausgeübt wie in London.
10. Die Nachfolger der Zaren waren übrigens derselben Ansicht. Im Jahre 1903 schrieb Lenin: „Die zionistische Idee ist völlig falsch und ihrem Wesen nach reaktionär. Die Idee einer separaten jüdischen Nation ist wissenschaftlich vollkommen unhaltbar und in ihren politischen Auswirkungen reaktionär… Die jüdische Frage lautet: Assimilation oder Absonderung? Und die Vorstellung eines jüdischen Volkes ist augenscheinlich reaktionär.“ 1913 bekräftigte Stalin dieses Urteil; das jüdische Schicksal sei Assimilation (in einer kommunistischen Welt, meinte er natürlich). (Zurück)
11. Wie schwierig es ist, die Fakten in dieser Angelegenheit zu eruieren, geht beispielsweise daraus hervor, dass Weizmann laut Mrs. Dugdale gesagt haben soll: „Ich sah ihn [Balfour] erst 1916 wieder“, obwohl er sich anderswo anders äußerte und Mrs. Dugdale selbst festhielt: „Am 14. Dezember 1914 hatte Dr. Weizmann eine Verabredung mit Balfour.“ Diese implizite Erwähnung eines Treffens an diesem Datum wird allem Anschein nach durch Weizmanns eigene Aussage bestätigt, wonach er nach einer Unterredung mit Lloyd George am 3. Dezember 1914 „sofort Lloyd Georges Anregung aufgriff, Herrn Balfour zu treffen.“ (Zurück)