Israelisch-arabische Diskussionen in der Online-Enzyklopädie

Von Suska Döpp

Wikipedia will helfen, Grenzen zu überwinden - denn wer Zugang zu neutralem Wissen hat, ist weniger anfällig für Vorurteile und Hass. Ob das tatsächlich funktioniert, lässt sich wohl nirgendwo besser überprüfen, als in Israel, dem Gastgeberland der Wikimania 2011.

Israelische Soldaten im Gazastreifen; Rechte: dpa
Nahostkonflikt - auch bei Wikipedia nicht neutral

Kaum ein Thema in der Mitmach-Enzyklopädie Wikipedia ist unter ihren Autoren ähnlich umstritten wie der Nahostkonflikt mit all seinen Aspekten - von der Zerstörung palästinensischer Dörfer vor der israelischen Staatsgründung 1948 bis hin zu den Ereignissen auf der Gaza-Hilfsflotille "Mavi Marmara" im Frühjahr 2010. Seitenlange Diskussionen zeugen von Grabenkämpfen in den verschiedenen Sprachversionen der Wikipedia. Und bei der Wikimania in der nordisraelischen Hafenstadt Haifa werden sich israelische und arabische Wikipedia-Autoren in den strittigen Fragen keinen Schritt näher kommen - von den rund 600 Teilnehmern aus 56 Ländern kommt kein einziger aus einem arabischen Staat.

Keine arabischen Wikipedianer in Haifa

"Einige wollen aus ideologischen Gründen nicht mit einer israelischen Organisation zusammenarbeiten, andere fürchten die Reaktionen in ihrer Heimat oder scheuen die komplizierten Einreiseformalitäten", berichtet Dror Kamir von Wikimedia Israel, für den seine eigene Reise zur Wikimania 2008 in Ägypten "ein überwältigendes Erlebnis" war. Kamir hat die offizielle Wikimania-Seite ins Arabische übersetzt und einige arabische Autoren persönlich eingeladen. Ohne Erfolg.

Richtige Fakten - Wertende Wortwahl

Wirklich erstaunt ist Kamir allerdings nicht, denn wenn es um Grenzen im Kopf geht, ist der 36-Jährige ein Experte. Während die meisten der rund 40 israelischen Hardcore-Wikipedianer zur englischen und hebräischen Sprachversion beitragen, hat der Übersetzer auch für die arabischsprachige Wikipedia geschrieben. Wertende Artikel über Juden, Araber und zahllose Aspekte des Nahostkonflikts hat er in allen drei Ausgaben gefunden - mit wechselnden Vorzeichen. "In der arabischen Wikipedia gibt es sehr viele antiisraelische Beiträge, in der hebräischen mehr Inhalte, die einen israelischen Standpunkt wiedergeben, und in der englischen Version hält sich das die Waage", meint Kamir.

Dabei gefährden nach seiner Erfahrung selten falsche Fakten die Neutralität der Mitmach-Enzyklopädie. Problematisch seien eher die Gewichtung der Ereignisse und wertende Begriffe wie "Besatzung" oder "gewaltsam".

Manipulation von allen Seiten?

Weil dem einen ein Freiheitskämpfer ist, was der andere einen Terroristen nennt, nahmen im letzten Sommer zwei rechtsgerichtete israelische Organisationen die Wikipedia ins Visier und bildeten rund 50 Anhänger in Workshops für "zionistisches Schreiben" aus. Der palästinensische Journalistenverband kündigte prompt eine Gegenoffensive an und die Nachricht über den Kampf um die Deutungshoheit in der Online-Enzyklopädie schwappte bis nach Deutschland. Passiert ist seither nichts. "Wir haben nicht festgestellt, dass sich das in der hebräischen oder der englischen Wikipedia irgendwie niedergeschlagen hat", berichtet Kamir. "Es ist bei den üblichen Diskussionen geblieben."

Die Grenzen der Selbstkontrolle

Doch genau diese Diskussionen reichen nach Kamirs Einschätzung, das Wikipedia-Prinzip der Selbstkontrolle durch die Community an seine Grenzen zu bringen. Auch wenn Mitglieder des eigens initiierten Wiki-Projekts Israel darum ringen, wertende Begriffe zu streichen und jede Behauptung mit Quellen zu belegen: "Quellen werden immer wieder angezweifelt, oder mit Gegenquellen befeuert", meint Kamir. In der arabischen Wikipedia gebe es dagegen das andere Extrem einer sehr homogenen Mehrheitsmeinung. "Wenn fast alle der gleichen Auffassung sind, fällt mangelnde Neutralität nicht auf, und niemand schreitet ein."

Grabenkämpfe machen mürbe

Kamir haben die dauernden Grabenkämpfe mürbe gemacht, inzwischen editiert er nur noch selten. Stattdessen hat er sich in ein anderes Projekt gestürzt, das Schulen in Kamerun mit Computern und der Offline-Version der Wikipedia versorgt. Sein Fazit zum Thema Grenzen ist ernüchternd: "Die Wikipedia ist nur so offen, wie die Leute, die sie machen", sagt Kamir. "Wer von Angesicht zu Angesicht nicht miteinander spricht, tut das auch im Rahmen von Wikipedia nicht." Ganz so pessimistisch will Kamir das am Ende aber auch nicht stehen lassen und fügt hinzu: "Wenn man sich allerdings austauschen möchte, dann ist Wikipedia eine wunderbare Möglichkeit."


© 2011 wdr.de